176 II. Reichsgesetzgebung. Art. 5.
Bundesrat nur auf Grund eines Mehrheitsbeschlusses an den Reichstag eine
Vorlage bringen; einzelne Bundesglieder aber, mag es sich auch um Preußen
handeln, dürfen nach Art. 7 Ziff. 2 R.V. ihre Vorschläge nur an das Plenum
des Bundesrats richten. Der Reichskanzler als solcher kann im Bundesrat
keine Anträge stellen, sondern er kann dies nur in seiner Eigenschaft als
preußischer Bundesratsbevollmächtigter tun; die sogen. Präsidialstimme ist
die Stimme Preußens. Deshalb müssen Anträge auf gesetzgeberische Maß-
regeln, die von dem Reichskanzler oder seinen Stellvertretern oder von einer
einzelnen Bundesregierung gestellt werden, stets an den Bundesrat gerichtet
sein. Insofern hat, da die Anträge, die von der Reichsverwaltung und
den Regierungen der Einzelstaaten ausgehen, an Zahl und Bedeutung die
im Reichstag eingebrachten Initiativ-Gesetzesvorschläge weit überragen,
praktisch der Bundesrat hinsichtlich der Priorität der Behandlung der Ge-
setzesvorlagen einen gewissen Vorrang; es erklärt sich dadurch, daß nur die
Reichsverwaltung und die Regierungen der Einzelstaaten den Apparat be-
sitzen, der im allgemeinen erforderlich ist, um die für die Ausarbeitung
von Gesetzentwürfen erforderliche Detailarbeit zu bewältigen.
ee) Gleichberechtigung hinsichtlich der materiellen Gesetzgebungskompetenz.
Die Kompetenz des Bundesrats und des Reichstags für Gesetzesvorschläge
hat auch materiell den gleichen Umfang. Art. 23 R.V. bestimmt zwar, daß
der Reichstag nur das Recht hat „innerhalb der Kompetenz des Reichs Ge-
setze vorzuschlagen“", während für den Bundesrat nach der Reichsverfassung
eine entsprechende Beschränkung nicht besteht. Aber, wie zu Art. 23 A2
ausgeführt ist, hat diese Bestimmung nicht die Bedeutung, Gesetzesvorschläge
des Reichstags auszuschließen, deren Ziel eine Kompetenzerweiterung ist.
Denn zur Kompetenz des Reichs gehört auch die Erweiterung seiner Kom-
petenz im Wege der Reichsgesetzgebung. Initiativvorschläge des Reichstags
für Reichsgesetze dieses Inhalts werden daher durch den Wortlaut des
Art. 23 gedeckt, und ausgeschlossen bleiben auf Grund des Art. 23 nur
Initiativanträge auf solche Reichsgesetze, die nach der Reichsverfassung un-
zulässig sind, z. B. Reichsgesetze, durch welche die Sonderrechte von Einzel-
staaten ohne deren Zustimmung beeinträchtigt werden sollen oder durch welche
die im Eingang der Reichsverfassung unabänderlich festgestellte Rechtslage der
Einzelstaaten angegriffen wird, z. B. Gesetze, welche die Gleichberechtigung
der Einzelstaaten oder ihre staatliche Existenz gefährden. Auf diesem Gebiet
aber darf der Bundesrat ebensowenig Gesetzesvorschläge kundgeben, weil
Reichsgesetze, die gegen diese Grundsätze verstoßen, überhaupt ausgeschlossen
sind. Auch hier zeigt sich also die Gleichberechtigung von Bundesrat und
Reichstag; darin, daß jede von beiden Körperschaften die Vorschläge der
anderen ablehnen kann, liegt ein ausreichender Schutz gegen politische Ge-
fahren; vgl. Laband ll S. 23 f., v. Seydel S. 202, Hänel Studien 1 S. 256.
#) Gleichberechtigung hinsichtlich der Frage der Diskontinnität.
Einmal gefaßte, endgültige Beschlüsse des Bundesrats und Reichs-
tags werden durch einen nachträglichen Personenwechsel der beschließenden
Körperschaften nicht mehr berührt; sie behalten dauernd ihre Gültigkeit.
Dies gilt für beide Körperschaften als weitere Konsequenz der Gleich-
berechtigung.