II. Reichsgesetzgebung. Art. 5. 177
Durch § 70 der Geschäftsordnung des Reichstags ist im Anschluß an
die Praxis des preuß. Abgeordnetenhauses (§ 74 der G.O. des letzteren) be-
stimmt, daß Gesetzesvorschläge, Anträge und Petitionen mit dem Ablaufe der
Sitzungsperiode, in der sie eingebracht und noch nicht zur Beschlußnahme
gediehen fsind, für erledigt erachtet werden. Dies entspricht einem all-
gemeinen konstitutionellen Gewohnheitsrecht, das als das Prinzip der Dis-
kontinuität bezeichnet wird. Die Reichsgesetzgebung hat es indirekt dadurch
anerkannt, daß zur Durchführung der Beratung der Reichsjustizgesetz-Ent-
würfe, die wegen ihres großen Umfangs nicht innerhalb einer Session
erledigt werden konnten, Reichgesetze u. d. 23. Dez. 1874 R.G. Bl. S. 194,
1. und 20. Febr. 1876 R.G. Bl. S. 15, 23 erlassen wurden, die eine Aus-
nahme von dem Prinzip der Diskontinuität, nämlich die Fortsetzung der
Kommissionsberatung über den Schluß der Session hinaus und die Fort-
setzung der begonnenen Beratung in der nächsten Session förmlich gestatteten;
vgl. v. Rönne I S. 262.
Aus diesem ipsoweit in unbezweifelter Geltung stehenden Prinzip der
Diskontinuität ist in überspannung der zugrunde liegenden Idee von v. Rönne
II 1 S. 51 gefolgert worden, daß für die bis zum Schluß der Session zwar
vom Reichstag, aber nicht vom Bundesrat erledigten Gesetzentwürfe der
weitere Weg der Gesetzgebung: Beschlußfassung des Bundesrats nach
Art. 7 Ziff. 1 R.V., Ausfertigung und Verkündigung nicht mehr zulässig
seien. Nicht soweit geht Meyer § 163 A. 22 S. 586, der bis zum Ablauf
der Legislaturperiode die Erledigung eines vom Reichstag beschlossenen
Gesetzentwurfes zuläßt, ebenso Rofin, Polizeiverordnungsrecht in Preußen
S. 254 Art. 3 und aus Zweckmäßigkeitsgründen v. Jagemann S. 92,
während Müller-Meiningen in Hirth's Annalen 1904 S. 306 und Frörmann
im Arch f.öff. K. Bd. 14 S. 513 ein je nach den Umständen zu bemessendes
tempus mocicum als Zeitgrenze für die dem Bundesrat und Kaiser ob-
liegende Erledigung des Gesetzentwurfs ansehen. Die meisten Schriftsteller
erkennen eine Zeitgrenze überhaupt nicht an, so u. a. Laband II S. 55 und
D. Jur. Zeit. 1904 S. 324, v. Seydel S. 117, Arndt S. 183, (weitere Lite-
raturangaben bei Meyer § 158 A. 19 S. 570). Was die Proaxis betrifft,
so find zwar die beiden in der 1. Session des Reichstags von 1871 ange-
nommenen Gesetzentwürfe über das Postwesen und das Posttaxwesen dem Reichs-
tag in der 2. Session noch einmal unverändert vorgelegt und in den Motiven
(Anl. der 1. Leg.-Per. Seff. 2. Bd. 4 S. 16 Nr. 9) ist hierzu bemerkt worden,
daß im Hinblick auf den inzwischen eingetretenen Schluß der Session die
nochmalige Vorlegung der Gesetzentwürfe „angemessen erschienen“ sei. Als
Grund hierfür könnte nichts anderes in Betracht kommen, als die Besorgnis,
daß der neue Reichstag zu dem Gesetzentwurf eine andere Stellung ein-
nehmen würde als der frühere. Abgesehen davon, daß dieser Gesichtspunkt
nicht in das Gebiet des Staatsrechts, sondern in das der Politik und
Konnivenz fällt, ist der Standpunkt vom Bundesrat und der Reichs-
verwaltung später nicht mehr aufrecht erhalten worden, sondern in zahl-
reichen Fällen, die der Staatssekretär des Reichs-Iustizamts Nieberding in
der Reichstagssitzung v. 14. April 1904 St. B. 2082 f. angeführt hat, sind
nicht nur nach dem Schluß der Session, sondern auch nach dem Schluß
des Legislaturperiode und selbst noch nach der Berufung und Eröffnung
des neuen Reichstags Gesetzentwürfe, die von dem früheren Reichstage
Dambitsch, Deutsche Reichsverfassung. 12