II. Reichsgesetzgebung. Art. 5. 181
g) Kompromisse als Konsequenz der Gleichberechtigung.
Unter a—f sind bereits mehrere Konsequenzen des von der Reichs—
verfassung angenommenen Grundsatzes, daß Bundesrat und Reichstag in
Ansehung ihrer Teilnahme an der Gesetzgebung gleichberechtigt sind, auf-
gezählt worden; es soll nun die letzte und wichtigste Konsequenz erörtert
werden. Die Reichsverfassung verlangt für ein Reichsgesetz die Über-
einstimmung von Mehrheitsbeschlüssen des Bundesrats und Reichstags.
Es drängt sich von selbst die Frage auf: was geschieht, wenn eine Über-
einstimmung nicht zu erzielen ist! — Durch die Antwort, daß dann das
Reichsgesetz nicht zustande kommt, sondern unterbleibt, ist diese Frage nicht
erledigt. In das Gebiet der Reichsgesetzgebung fallen Angelegenheiten, die
keinen Aufschub dulden und die, wenn sie unerledigt blieben, das Reich an
den Rand des Abgrunds bringen würden; man denke an Militärgesetzentwürfe,
deren Ausführung mit Rücksicht auf politische Gefahren nicht aufgeschoben
werden kann, an Gesetze, die erforderlich sind, um einen plötzlich hervorgetrete-
nen hygienischen oder sonstigen Notstand abzuwenden, an den Reichsetat, der
nach Art. 69 R.V. durch ein Reichsgesetz geregelt werden muß; es bedarf
keiner weitern Ausführung, daß ohne Erledigung der dem Reich obliegenden
notwendigen Ausgaben das Leben und der Verkehr im Reiche wie in den
Einzelstaaten fast stillstehen müßte. Es bleibt also die Frage offen, was
geschehen muß, wenn über diese unentbehrlichen und unaufschiebbaren, selbst
durch jedes denkbare Opfer und jede Einschränkung nicht zu vermeidenden
Bedürfnisse das nach der Verfassung erforderliche Reichsgesetz nicht zustande
kommt. Die Reichsverfassung enthält hierauf keine unmittelbare Antwort.
Der Beschluß des Bundesrats wiegt so schwer wie der des Reichstags und
umgekehrt; ein ausschlaggebender Machtfaktor ist nicht vorhanden, insbesondere
stehen dem Kaiser nach dieser Richtung Funktionen nicht zu (vgl. oben A 2),
und die Regelung hat ihre guten Gründe. Mit der Macht, die zur Zeit
der Gründung des Reichs der konstitutionelle Gedanke bereits gewonnen hatte,
war es nicht vereinbar, die Volksvertretung der Regierung in Angelegenheiten
der Gesetzgebung zu unterwerfen, und die Reichsverfassung hat deshalb keine
Lösung für die aufgeworfene Frage gegeben und konnte sie nicht geben. Das
Ergebnis würde also ein unlösbarer Konflikt zwischen Bundesrat und
Reichstag sein. Konflikt und Verfassung aber sind Gegensätze. Man muß
deshalb einen dem Sinne der Verfassung entsprechenden Ausweg suchen,
und der Ausweg kann nur das Kompromiß sein. Dies ist nicht nur eine
politische, sondern nach den vorstehenden Ausführungen auch eine staats-
rechtliche Erwägung; da die Reichsverfassung das Zustandekommen von
Reichsgesetzen ohne Einschränkung, also auch von solchen Reichsgesetzen, ohne
deren Ausführung das Reich nicht bestehen kann, von der Übereinstimmung
des Bundesrats und Reichstags abhängig macht, kann als ein dem Geist
der Reichsversassung entsprechender politischer Zustand nur derjenige anerkannt
werden, der sich aus der Verständigung zwischen Bundesrat und Reichstag
ergibt. Steht der Regierung eine innerlich homogene Mehrheit im Parlament
nicht zur Verfügung, so muß sie — was Reformen anbetrifft — einer
programmatischen Politik entsagen und sich damit begnügen, mit einer
adc hoc gebildeten Mehrheit bestimmte Fragen von Fall zu Fall zu lösen;
vgl. Rede des Reichskanzlers Fürst Bülow in der Reichstagssitzung v.