236 III. Bundesrat. Art. 7.
kann, wenn nach den regelmäßigen Grundsätzen festgestellt ist, daß die Vor-
aussetzung für die Anwendung der Ausnahmebestimmung gegeben ist. Da
gegen spricht das Bedenken, daß dann die Minderheit beliebig überstimm
werden könnte auch in den Fällen, in denen die Verfassung zum Schutze
gegen Majorisierung pofitive Bestimmungen gegeben hat; andererseits besteh
die Gefahr, daß die Minderheit in der Lage wäre, den genannten Ver-
fassungsbestimmungen ein weit größeres Anwendungsgebiet zu verschaffen,
wenn sie in allen ihr zweifelhaft erscheinenden Fällen die Vorfrage aufwirft,
ob Überhaupt ein Mehrheitsbeschluß zulässig sei, und diese Frage in ihrem
Sinne entscheidet. Mehrheit und Minderheit stehen sich hier wie zwei gleich-
berechtigte Parteien gegenüber, und bei dem Mangel einer den Zweifelspunkt
entscheidenden ausdrücklichen Verfassungsbestimmung wird man zu einer be-
friedigenden Lösung nur dann gelangen, wenn man, wie es für Art. 5 Abs. 2
und Art. 37 bereits bei Art. 5 B 3 S. 190 ausgeführt ist, die Entscheidung
auch für Verfassungsänderungen dem Faktor überläßt, der staatsrechtlich noch
als das einzige in Betracht kommende unparteiische Element angesehen werden
kann, dem Kaiser. Die Befugnis des Kaisers hierzu kann ebenso wie in
dem Falle des Art. 5 Abs. 2 und 37 darauf gestützt werden, daß es nach
richtiger Auslegung der Art. 2 und 17 R.V. Recht und Pflicht des Kaisers
ist, vor der Publikation von Gesetzen deren verfassungsmäßige Entstehung
zu prüfen. Die hier erörterte Frage kann, weil sie Verfassungsfragen be-
rührt, als eine interne Angelegenheit des Bundesrats für den Kaiser nicht
gelten; vgl. Art. 2 W2b S. 64 und Art. 78 II. Natürlich hat diese Lösung
politisch keine andere Wirkung, als daß für diese Fragen die Stimme Preu-
ßens im Bundesrat entscheidet. Dies ist unvermeidlich. Jedoch ist an-
zunehmen, daß ein Streit darüber, ob die Voraussetzungen für die An-
wendung der Art. 5 Abs. 2, 37 und 78 gegeben sind, im Bundesrat nicht
leicht entstehen wird. Es ist Sache des Reichskanzlers, in Fragen von
derartiger staatsrechtlicher Zweifelhaftigkeit eine vermittelnde Stellung ein-
zunehmen, damit nicht der Anschein entsteht, daß in Rechtsfragen eine
Majorisierung unter politischen Gesichtspunkten erfolgt. Denn in dieser
Frage liegt insofern der Keim zu Konflikten, als die Abstimmung, deren
natürlicher Zweck es ist, jede Meinungsverschiedenheit schließlich zu beenden,
diese ihre Bedeutung und heilende Kraft verliert, wenn man nicht einmal
darüber einig ist, ob überhaupt und nach welchem Modus die Abstimmung
Platz zu greifen hat. Als mit Bezug auf den Zollanschluß Hamburgs die
vorliegende Frage im Jahre 1880 in der Tat im Bundesrat zweifelhaft
wurde, d. h. als eine Meinungsverschiedenheit darüber entstand, ob in dem
bisherigen Ausschluß Hamburgs vom Zollgebiet ein nach Art. 78 Abs. 2
zu beurteilendes Sonderrecht liege, hat Fürst Bismarck in einem an die
preußischen Gesandten bei den deutschen Bundesstaaten gerichteten Rund-
schreiben v. 6. Mai 1880 (Horst Kohl Die politischen Reden des Fürsten
Bismarck Bd. 8 S. 176 ff.) folgendes erklärt:
„Da die Schwierigkeit, daß eine Bundesregierung die Reichsverfassung
für verletzt hält, sich bei jedem Streit über Interpretationen der Ver-
fassung wiederholt, so bin ich seit Einrichtung des Bundesrats mit Erfolg
bemüht gewesen, zu verhüten, daß Fragen der Art zur Entscheidung
gestellt werden. Als Reichskanzler liegt mir die Pflicht ob, die
verfassungsmäßigen Rechte des Bundesrats wahrzunehmen und die Ge-