Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

III. Bundesrat. Art. 9. 259 
Bevollmächtigter eines Bundesstaats ist. Dies hat Fürst Bismarck, der 
überhaupt davon ausging, daß die Bestellung des Reichskanzlers zum 
Bundesratsbevollmächtigten keine staatsrechtliche Notwendigkeit sei, in der 
Reichstagssitzung v. 24. Jan. 1882 St. B. 893 bestätigt. 
Über die Frage, ob es staatsrechtlich zulässig ist, daß der Reichskanzler 
nicht zugleich zum Bundesratsbevollmächtigten ernannt wird, val. Art. 15 Al. 
2. Ist das Recht eine Pflicht? 
Jedes Mitglied des Bundesrats hat „das Recht“ im Reichstag zu er- 
scheinen, aber nicht die Pflicht. Eine dem Art. 60 der preuß. Verfassungs- 
urkunde entsprechende Bestimmung, wonach jede Kammer die Gegenwart 
der Minister verlangen kann, besteht für das Reichsrecht nicht. Im konst. 
Reichstage hatte der Abg. Braun den Antrag gestellt, dem Reichstage das 
Recht zu geben, bei seinen Beratungen die Anwesenheit des Bundeskanzlers 
zu verlangen. Der Antrag wurde abgelehnt, nachdem Fürst Bismarck in 
der Sitzung v. 29. März 1867 St. B. 445 durch folgende Erklärung sich da- 
gegen ausgesprochen hatte: 
„Ich halte diesen Zusatz eigentlich für überflüssig. Die Regierungen 
haben ja das größte und dringendste Interesse, ihre Angelegenheiten beim 
Reichstag zu vertreten und hier zu erscheinen. Ich kann mir nur in 
dem Fall die Abwesenheit jedes Vertreters der Regierungen als möglich 
denken, daß eben die Regierungen ein dringendes Bedürfnis hätten, über 
die vorliegende Frage zu schweigen. Wollen sie nun in dem Fall gewisser- 
maßen durch einen Haftbefehl den Bundeskanzler zwingen, daß er sich Ihnen 
zeigt, so weiß ich doch nicht — wenn ich mich in seine Stelle denke — 
welche Gewalt, welche parlamentarische wenigstens, mich zwingen könnte, zu 
reden, wenn ich schweigen will, und die bloße schweigende Anwesenheit würde 
unter Umständen für die Regierungen eine Verlegenheit, für den persönlich 
Beteiligten gewiß eine sein, namentlich aber unter Umständen in auswärti- 
gen Fragen für die Regierungen. Es kann ja sein, daß gerade durch ihre 
Abwesenheit die Regierung bei einer solchen Gelegenheit die Verhandlungen 
des Reichstages von jeder Rücksicht entbinden wollte. Es kann ja sein, daß 
sie schweigen will, und jedes Schweigen hat immer etwas von dem, welches 
zuzustimmen scheint, wenn man wirklich dabei sitzt. Aber ich kann mir nur 
sehr wenig Fälle der Art denken, wo die Regierungen darüber einig sein 
sollten, trotz des vom Reichstage geäußerten Wunsches nicht zu kommen.“ 
Hier ist übrigens vom Fürst Bismarck anerkannt, daß eine gewisse 
moralische Verpflichtung des Reichskanzlers besteht, im Reichstage zu er- 
scheinen und Auskunft zu geben, abgesehen natürlich von den Fällen, in 
denen höhere Interessen des Staates das Schweigen fordern. Diese Ver- 
pflichtung steht im engsten Zusammenhange mit der politischen Verantwort- 
lichkeit des Reichskanzlers, die nicht ausreichend wirksam werden könnte, 
ohne die korrespondierende Pflicht im Reichstage Rede zu stehen. Demgemäß 
besteht diese Pflicht nicht für sämtliche Bundesratsbevollmächtigte, sondern 
nur für den Reichskanzler und seine Stellvertreter, und zwar nicht in ihrer 
Eigenschaft als Bundesratsbevollmächtigte, sondern in ihrer Eigenschaft 
als verantwortliche Leiter der Reichspolitik. Eine Bestätigung hierfür kann 
in einer Außerung des Staatssekretärs des Reichsjustizamts Nieberding 
(Reichstagsfitzung v. 21. März 1901 St. B. 2075) gefunden werden. 
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