264 III. Bundesrat. Art. 9.
II. Die Inkompatibilität der Mitgliedschaft des Bundesrats
und des Reichstags.
Die Funktionen eines Bundesratsbevollmächtigten und eines Reichs-
tagsabgeordneten sind inkompatibel, denn der Bundesratsbevollmächtigte
hat nach den Instruktionen seiner Regierung zu stimmen, während der Reichs-
tagsabgeordnete nach Art. 29 R.BV. Bertreter des gesamten Volkes und an
Aufträge und Instruktionen nicht gebunden ist. Man kann nach den
Begriffen des modernen Staatsrechts nicht gleichzeitig Regierungsvertreter
und Volksvertreter sein, weil es die konstitutionelle Aufgabe der Volks-
vertretung ist, das Gegengewicht zur Regierungsgewalt zu bilden.
Ein Reichstagsabgeordneter wird, ehe er sein Mandat niedergelegt hat,
zweifellos nicht zum Mitgliede des Bundesrats ernannt werden. Wird
aber ein Bundesratsbevollmächtigter in den Reichstag gewählt und nimmt
er die Wahl an, so wird, da gegen ein Reichstagsmitglied in Ansehung
seiner Funktionen als Abgeordneter ein Zwang nicht zulässig ist, nur übrig
bleiben, daß dieser Abgeordnete seiner Stellung als Bundesratsmitglied
enthoben wird.
Ein Bundesratsmitglied ist für den Reichstag wählbar. Art. 9 ver-
bietet die Wählbarkeit ebensowenig wie das Wahlgesetz v. 81. Mai 1869
B. G. Bl. S. 145 — ebenso u. a. Laband I S. 291, Meyer § 129 A. 4 S. 440,
v. Seydel in Hirth's Annalen 1880 S. 366 A. 9, Arndt S. 120. Daraus
ergibt sich zugleich, daß die für Bundesratsmitglieder abgegebenen Wahl-
zettel gültig und bei der Berechnung der absoluten Mehrheit in Ansatz zu
bringen sind. Die Wahlprüfungskommission des Reichstags hat allerdings
i. J. 1879 das Gegenteil angenommen (Anl. des Reichstags v. 1879 Bd. 6
S. 1520 Nr. 228). Doch ist dieser Beschluß nachträglich für irrig erklärt
worden.
Die Bestimmung über die Mitglieder des Bundesrats bezieht sich auch
auf deren Stellvertreter, da nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Stell-
vertreter dem Vertretenen gleich zu behandeln ist, soweit die den Gegenstand
der Vertretung bildende Tätigkeit einen Fall der Kollision schafft und es
sich um die Beurteilung der rechtlichen Folgen dieser Kollifion handelt.
Durch die gleichzeitige Funktion eines stellvertretenden Bundesratsbevoll-
mächtigten als Reichstagsabgeordneter wird eine Kollision zwischen den
aus beiden Funktionen sich ergebenden Pflichten nicht weniger begründet
als wenn der Fall sich in der Person eines Hauptbevollmächtigten ereignet.
Dagegen wird man die Bestimmung des Art. 9 mit Rücksicht auf ihren
Wortlaut nicht ohne weiteres auf die für den Bundesrat als Hilfsarbeiter
tätigen Beamten beziehen können, obschon ein nicht unbedenklicher Konflikt
der Pflichten sich daraus ergeben könnte, daß ein für die Geschäfte des
Bundesrats — sei es auch in formell unselbständiger Weise — tätiger
Beamter dieselben Angelegenheiten als Reichstagsmitglied zu bearbeiten
hätte. Die Frage wird kaum praktisch werden. Es ist anzunehmen, daß
die Verbündeten Regierungen bez. der Reichskanzler keinen Reichs= oder
Staatsbeamten, der Reichstagsmitglied ist, mit den Funktionen eines
Regierungskommissars beauftragen werden.