290 IV. Präsidium. Art. 11.
Oberbefehl des Kaisers ausgeschlossen. Dagegen ist es auf Grund der
positiven Bestimmung des Art. 66 R.V. zulässig, daß die außerpreußischen
Bundesstaaten mit Preußen wegen der Militärverwaltung Konventionen
schließen, die der Reichsverfassung nicht widersprechen.
Im Bereiche der Materien, die zwar durch die Reichsgesetzgebung er-
schöpfend geregelt sind, für die aber den Einzelstaaten die Verwaltung ge-
blieben ist, z. B. Rechtspflege, Gewerbewesen, indirekte Steuern und Zölle,
können die Einzelstaaten noch Verträge schließen, soweit es sich dabei ledig-
lich um die Regelung der Verwaltung und um die Ausführung der Reichs-
gesetzgebung handelt; z. B. stellen in diesem Sinne die auf die Auslieferung
von Verbrechern gerichteten Staatsverträge der Einzelstaaten eine Aus-
führung der die Strafverfolgung und Strafvollstreckung betreffenden Reichs-
gesetzgebung dar.
In Ansehung derjenigen Angelegenheiten, für die das Reich weder
bezüglich der Gesetzgebung noch bezüglich der Verwaltung zuständig ist, find
die Einzelstaaten für den Abschluß von Staatsverträgen grundsätzlich frei
und nur an die Schranken gebunden, die von den allgemeinen Bestimmungen
des Reichsrechts gezogen find, z. B. den allgemeinen Vorschriften strafrecht-
licher, civilrechtlicher, prozessualer und gewerberechtlicher Natur.
' Endlich ist zu bemerken, daß die Einzelstaaten keine Möglichkeit haben,
die Durchführung ihrer Staatsverträge zu erzwingen. Soweit die Verträge
zwischen Bundesstaaten geschlossen sind und über ihre Auslegung oder An-
wendung Streit entsteht, muß gemäß Art. 76 Abs. 1 R.V. der Streit durch
den Bundesrat erledigt werden. Tritt derselbe Fall bei Verträgen ein, die
von einem Bundesstaat mit dem Ausland geschlossen find, so bleibt nur
übrig, den Kaiser anzurufen. Denn nur die Reichsverwaltung kann die
erforderlichen diplomatischen Mittel anwenden, den Weg der Schiedsgerichts-
barkeit beschreiten, wenn dieser Weg gegeben ist, und nötigenfalls zur
Selbsthülfe greifen. Die Kompetenz des Reichs ist ebenfalls ohne weiteres
begründet, wenn ein ausländischer Staat auf Grund geschlossener Verträge
einen Bundesstaat in feindlicher Weise in Anspruch nimmt.
Zu den Materien, für welche die Einzelstaaten ebenso bezüglich des
Abschlusses von Verträgen wie bezüglich der Gesetzgebung unbeschränkt find,
gehört u. a. das Kirchen= und Schulrecht, das Bergrecht, die direkten Steuern
und der größte Teil des inneren Polizeiwesens. In den Bereich des Kirchen-
rechts fällt auch die Regelung der Beziehungen zum Papst. Deshalb ge-
hört der Abschluß der Konkordate zur Kompetenz der Einzelstaaten.
Auf den Gebieten, für die das Reich zur Gesetzgebung zuständig ist,
aber von seiner Gesetzgebungsbefugnis noch keinen Gebrauch gemacht hat,
können die Einzelstaaten Verträge schließen, müssen aber gewärtigen, daß
die Verträge hinfällig werden, sobald die Gesetzgebung des Reichs tätig
wird und die Materie in einer von dem Vertragsrecht der Einzelstaaten
abweichenden Art regelt. Dies gilt auch dann, wenn es sich um Staats-
verträge handelt, die vor der Gründung des Reichs geschlossen sind. Mit
Bezug auf das Gesetz v. 1. Juni 1870 über die Erwerbung und Verlust
der Staatsangehörigkeit B.G. Bl. S. 8355 hat das Reichsgericht (1. Strif. Urt.
v. 2. Juni 1881 Bd. 4 S. 271) dies ausdrücklich anerkannt. Die Gründe
des Urteils ergeben, daß die Aufhebung von Verträgen der Einzelstaaten
durch das Reichsrecht grundsätzlich für berechtigt angesehen wird.