Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

IV. Präsidium. Art. 11. 291 
Nicht im Einklang mit dieser Entscheidung steht das Urteil des Reichs- 
gerichts v. 1. Juli 1889 (6. Cs. Bd. 24 S. 12). Es handelte sich um die 
Frage, ob eine am 6. Jan. 1854 zwischen Sachsen und Österreich ab- 
geschlossenen Ubereinkunft wegen der gegenseitigen Behandlung von Konkurs- 
fällen durch die Reichskonkursordnung außer Kraft gesetzt sei: das Reichs- 
gericht hat dies verneint, und zwar besonders unter Hinweis auf die 
Motive zu § 4 der Konkursordnung S. 832 und zu 88 3—7 des Einf Ges. 
S. 463. 
Ahrlich lautet die Entsch, des Reichsgerichts v. 23. Juni 1890 (6. Es. 
Bd. 26 S. 128). Für die erstgenannte Entscheidung und die hier vertretene 
Ansicht kann auch das Urteil des Reichsgerichts v. 22. Sept. 1885 (4. Strfs. 
Bd. 12 S. 381) angeführt werden, wenigstens insoweit, als dort mit Be- 
stimmtheit zum Ausdruck gebracht ist, daß ein gehörig verkündeter Staats- 
vertrag die volle Bedeutung eines Gesetzes hat, und zwar ein vom Reiche 
geschlossener Vertrag die Bedeutung eines Reichsgesetzes — und wie man 
umgekehrt schließen muß — ein von einem Bundesstaat geschlossener Staats- 
vertrag die Bedeutung eines Landesgesetzes. Dasselbe ist beiläufig anerkannt 
in einer Entsch, des Kammergerichts v. 14. März 1898 (Johow Bd. 18 S. 76 
— „Es könnte nur durch eine reichsrechtliche Norm, mithin freilich auch 
durch einen gültigen Staatsvertrag — Art. 11 R.V. — eine Ausnahme 
begründet werden“). Stehen die Staatsverträge aber den Gesetzen gleich, 
so ist der Schluß zwingend, daß Art. 2 R.V. auf fie anzuwenden ist, daß 
also die Reichsgesetze und die Staatsverträge des Reichs den Landes--Staats- 
verträgen ebenso wie den Landesgesetzen vorgehen. 
Allerdings ist es unter politischen Gesichtspunkten nicht unbedenklich, 
daß durch Reichsgesetze oder Staatsverträge des Reichs die Staatsverträge 
der Einzelstaaten auch dann aufgehoben werden, wenn sie von den Einzel- 
staaten nicht nur untereinander, sondern mit dem Auslande geschlossen sind. 
Es werden dadurch wohlerworbene Rechte des Vertragsgegners verletzt 
und diese Rechtsverletzung hat eine internationale Bedeutung. Denn selbst 
wenn man annimmt, daß die Verpflichtungen der vertragschließenden Staaten 
in ihrem gegenseitigen Verhältnis von der derogatorischen Kraft der Reichs- 
gesetze unberührt bleiben, so hat dies doch kaum praktische Bedeutung. 
Praktisch würde der Anspruch des ausländischen Staates gegenüber dem 
deutschen Bundesstaate, der sich unter der Einwirkung von Reichsgesetzen 
außer Stande fieht, seine vertragsmäßigen Pflichten zu erfüllen, in den 
meisten Fällen ein nudum ius sein. Unter diesen Gesichtspunkten spricht 
zwar viel für den Standpunkt der Reichsgerichtsentscheidung von 1889 und 
der dort wiedergegebenen Motive zur Konkursordnung. Jedoch es überwiegt 
der Umstand, daß diese an sich wenig wünschenswerte Erscheinung die not- 
wendige Folge der sich aus der Struktur des Reichs ergebenden Tatsache 
ist, daß die Einzelstaaten zwar vertragsfähig geblieben sind, aber in An- 
sehung der Gesetzgebung dem höheren Willen des Reichs in vielen Angelegen- 
heiten unterworfen find. Dies geht aus Art 2 R.V. hervor, und es spricht 
auch, wie von Laband II S. 158 A. 1 mit Recht hervorgehoben wird, die 
Erwägung mit, daß sonst — wie wenigstens theoretisch möglich wäre — jeder 
einzelne Bundesstaat einer vom Reiche beabsichtigten Gesetzgebung zuvor- 
kommen und sie dadurch vereiteln könnte, daß er einen Staatsvertrag mit 
gegenteiligem Inhalt schließt. Art. 56 E.G. z. B.G.B. bestimmt: 
19“
	        
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