Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

IV. Präsidium. Art. 11. 295 
durch ein Reichsgesetz sich auferlegt. Der Kaiser ist befugt, die Verhand- 
lungen mit dem Auslande über Staatsverträge auch in den wichtigsten An- 
gelegenheiten allein zu leiten. Der Reichstag ist verfassungsmäßig darauf 
beschränkt, den Vertrag in seiner Gesamtheit anzunehmen oder abzulehnen. 
Darin liegt eine weitgehende Freiheit für die Initiative der Reichsverwaltung, 
aber auch eine schwere Verantwortung. Davon entlastet sich die Reichs- 
verwaltung zum Teil, wenn der Bundesrat und Reichstag von vornherein 
zur Mitarbeit für das Zustandekommen des Vertrages in gewissen Grenzen 
herangezogen werden. Aus technischen Gründen ist es nicht angängig, den 
Reichstag unmittelbar an den Verhandlungen mit den Vertretern der aus- 
wärtigen Macht teilnehmen zu lassen. Doch kann die Reichsverwaltung in 
der Form eines Reichsgesetzes die Billigung der gesetzgebenden Körperschaften 
für die in Aussicht genommenen Vertragsverhandlungen sich von Hause aus 
in gewissem Grade sichern, z. B. durch ein Verfahren, wie es bei dem Zoll- 
tarifgesetz von 1902 eingeschlagen wurde, der in den wichtigsten Positionen 
— für Getreide — einen Doppeltarif enthielt, einen Minimalsatz für die Ver- 
trags-Konzessionen und einen Maximalsatz für den Fall, daß Handelsverträge 
nicht zustande kämen. Es war, nachdem dieser Zolltarif Gesetz geworden 
war, zu erwarten, daß die auf der Grundlage dieses Tarifs abgeschlossenen 
Handelsverträge logischer Weise vom Reichstage mindestens nicht mehr des- 
halb abgelehnt werden würden, weil die Getreidezölle zu hoch oder zu niedrig 
seien; bezüglich der anderen Pofitionen war anzunehmen, daß sie nicht in 
dem Maße Kampfobjekt sein und die Genehmigung der Verträge durch den 
Reichstag gefährden würden, wie gerade die Getreidezölle; vgl. die Bemer- 
kungen des Abg. Graf v. Schwerin-Löwitz in der Reichstagssitzung v. 2. Dez. 
1901 St. B. 2891 C und des Staatssekretärs des Innern Graf v. Posa- 
dowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 3. Dez. 1901 St. B. 2912. In 
einer anderen auf dieselbe Frage bezüglichen Erklärung v. 28. Okt. 1902 
St. B. 6023 hob der Staatssekretär des Innern neben diesem Gesichtspunkt 
das analoge Verhältnis zum Bundesrat hervor, dessen Zustimmung durch 
ein derartiges Verfahren ebenfalls von Anfang an für die Reichsverwaltung 
gewonnen werden kann, und die Bedeutung, die eine solche freiwillige 
Bindung der Reichsverwaltung dem Auslande gegenüber hat; es wird dem 
Auslande gegenüber das für Verhandlungen freie Feld zwar eingeengt, aber 
die Situation ist geklärt und die Bevollmächtigeten des Auslands machen 
dann nicht mehr Vorschläge, die für die Reichsverwaltung unannehmbar 
find, weil sie der dem Bundesrat und Reichstag gegenüber eingegangenen 
Verpflichtung widersprechen; es besteht auch nicht mehr in gleichem Maße 
die Gefahr, daß durch die öffentliche Meinung des Auslandes (Presse, In- 
terefsentenverbände) versucht wird, einen Druck auf die Verhandlungen aus- 
zuüben, dem nachzugeben durch die von der Reichsverwaltung übernommene 
Verpflichtung ausgeschlossen ist. Auch Fürst Bismarck hat in der Sitzung 
des Abgeordnetenhauses v. 26. April 1876 St. B. 1048 ausgeführt, daß eine 
über das nach der Verfasfung notwendige Maß hinausgehende Zuziehung 
der Volksvertretung zu Staatsverträgen, also eine Zuziehung schon vor dem 
Abschluß der Verhandlungen für besonders wichtige Verhältnisse ein geeig- 
netes Mittel ist, die Stellung der Regierung dem Lande gegenüber und im 
Verhältnis zum Vertragsgegner zu stärken und ihr für den sachlichen In- 
halt der Verhandlungen eine sichere Grundlage zu geben.
	        
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