Eingang. 23
der Reichskanzler Fürst Bülow in der Reichstagssitzung v. 1. Mai 1907
St. B. 1269 S. abgab, geht hervor, daß es sich nicht darum handelte, in
das innere Verfassungsleben eines Einzelstaats einzugreifen, sondern der
Bundesrat wollte nur soweit die Entscheidung an sich ziehen, daß das
Interesse des Reichs an der Aufrechterhaltung des Friedens unter den
Bundesstaaten gewahrt werden konnte, und diese Tendenz kann ihre ver-
fassungsmäßige Grundlage — mangels irgendeiner andern positiven Be-
stimmung der Reichsverfassung — nur in dem Eingang finden, aus dem
sich eine Kollektivgarantie aller Bundesstaaten für ihre Integrität und für
den Besitzstand, mit dem sie in das Reich eintraten, zu folgern ist. Deshalb
hat der Bundesrat nicht eine bestimmte Persönlichkeit als Thronfolger
defigniert, sondern es ist nur mit Rücksicht auf die angegebenen staatsrecht-
lichen Erwägungen eine bestimmte Persönlichkeit als nicht annehmbar be-
zeichnet, sodaß dem Bundesstaat Braunschweig die Freiheit der Entschließung
für die Neuwahl vollständig gewahrt blieb. Soweit in der Entscheidung
des Bundesrats eine Verletzung des Prinzips der Legitimität liegt, hat
diese Verletzung bereits i. J. 1866 als Konsequenz kriegerischer Ereignisse
stattgefunden.
Der Satz, daß das Reich den Schutz des innerhalb des Bundesgebiets
geltenden Rechts garantiere, bedarf noch nach zwei Seiten einer Erläuterung.
Einmal darf daraus nicht mehr gefolgert werden, als daß es sich um eine
Garantie handelt, die erst dann in Kraft tritt, wenn das in den Einzel-
staaten geltende Recht mit Rücksicht auf außerordentliche — außerhalb der
normalen Staatsordnung stehende — Verhältnisse nicht mehr verwirklicht
werden kann. Es ist deshalb beispielsweise unrichtig, wenn, wie es im Reichs-
tage geschah, von einzelnen Abgeordneten in der Sitzung v. 13. Dez. 1897
St. B. 177 — ährlich auch in der Sitzung v. 30. Jan. 1903 St.B. 7558 —
ausgeführt wurde, daß auf Grund der Bestimmung des Eingangs man zwar
nicht die Verletzung eines einzelnen Rechts oder Gesetzes in einem Bundes-
staate zu einer Reichssache stempeln dürfe, daß „aber eine Reichssache un-
zweifelhaft dann entstehe, wenn in einem Bundesstaate ein System einer
differentiellen Behandlung gewisser Bevölkerungsklassen bestehe (gemeint sind
die Preußen polnischer Abstammung und Sprache), da dann der Fall gegeben
sei, daß das innerhalb des Reichsgebietes bestehende Recht einem Teil der
Bevölkerung nicht mehr voll zuteil werde". Die Reichsverwaltung hat
dagegen stets den Standpunkt eingenommen, daß nicht nur — wie selbst-
verständlich — die Polenfrage eine innere Angelegenheit Preußens sei (val.
insbesondere die Erklärung des Staatssekretärs des Innern Graf v. Posadowsky-
Wehner in der Reichstagssitzung v. 30. Jan. 1903 St.B. 7567 A), sondern
daß das Reich überhaupt zur Verwirklichung des in den Einzelstaaten
geltenden Rechts erst dann in Anspruch genommen werden dürfe, wenn der
in den Einzelstaaten für die betreffenden Angelegenheiten vorgesehene In-
stanzenzug erschöpft sei und gleichwohl eine endgültige Erledigung der An-
gelegenheit nicht habe herbeigeführt werden können.
Ferner ist zu bemerken, daß die Reichsgarantie für das innerhalb
des Bundesgebiets geltende Recht nicht der auf verfassungsmäßigem Wege
bewirkten Veränderung dieses Rechts entgegensteht. Dies ist eigentlich selbst-
verständlich, doch ist hervorzuheben, daß dieser Satz auch für das Landes-
verfassungsrecht gilt; d. h. das Reich schützt die Landesverfassungen gegen