308 IV. Präsidium. Art. 12.
angelegenheiten darstellen, als Rechtsnachfolger eingetreten ist. Dies ist
z. B. für den zwischen Preußen und den Vereinigten Staaten von Amerika
geschlossenen Meistbegünstigungsvertrag seinerzeit anerkannt worden. Soweit
die preußischen Staatsverträge aber Angelegenheiten betreffen, die nicht aus-
schließlich Reichsangelegenheiten darstellen, sind diese Verträge dadurch, daß
Preußen sich mit den anderen deutschen Bundesstaaten zum Reich ver-
bunden und auf das Reich einen wesentlichen Teil seiner Staatsfunktionen
übertragen hat, überhaupt nicht berührt worden. Dies ist z. B. für den
zwischen Preußen und den Vereinigten Staaten von Amerika geschlossenen
Auslieferungsvertrag v. 16. Juni 1852 in einem von dem nach Amerika
geflüchteten Bankier Terlinden angestrengten Habeas corpus-Verfahren von
dem höchsten Gerichtshof der Vereinigten Staaten in der Entscheidung
v. 24. Febr. 1902 anerkannt worden (mitgeteilt in der D.Jur.Zeit. 1902
S. 348 VI); der amerikanische Gerichtshof hat sich darauf berufen, daß auch
das Deutsche Reich wiederholt den Fortbestand des Auslieferungsvertrages
anerkannt habe.
Artikel 12.
Dem Kaiser steht es zu, den Bundesrat und den Reichstag zu be-
rufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen.
I. Die Prärogative des Kaisers.
II. Die Berufung.
III. Die Eröffnung.
IV. Die Vertagung.
V. Die Schließung.
I. Die Prärogative des Kaisers.
Die ausschließliche Befugnis des Kaisers zur Berufung, Eröffnung,
Vertagung und Schließung des Bundesrats und Reichstags ist eine Ein-
richtung, die, mag auch ihre praktische Bedeutung mit Rücksicht auf andere,
das freie Ermessen des Kaisers hierbei einschränkende Verfassungsvorschriften
nicht allzu groß sein, doch bei voller Wahrung des konstitutionellen Charakters
des Reichs und unbeschadet der Tatsache, daß das Reich keine Monarchie
im eigentlichen Sinne des Wortes ist, die monarchische Spitze des Reichs
entschieden zum Ausdruck bringt. Dieses Recht ist ein weiterer Belag für
die sehr komplizierte Konstruktion der höchsten Gewalt im Reiche, für die
das Prinzip einer wechselseitigen Beschränkung der Reichsverwaltung und
des Bundesrats wesentlich ist. Nicht nur die gesetzgebenden Körperschaften
des Reichs, sondern mit dem Bundesrat sogar derjenige Faktor, der auch
auf dem Gebiete der Verwaltung in gewissen Grenzen die höchste Staats-
gewalt innehat, können ohne einen kaiserlichen Willensakt ihre Tätigkeit
nicht beginnen und müssen sie auf den Befehl des Kaisers aufgeben oder
wenigstens unterbrechen — vorbehaltlich der aus Art. 13, 14, 25, 26 und 69
R.V. sich für das freie Ermessen des Kaisers ergebenden Beschränkungen.
Die Berufung bedeutet den Ruf an den Bundesrat und Reichstag,
sich am Orte der Tagung zu versammeln.
Die Eröffnung bedeutet die der Berufung und der Versammlung
folgende Aufforderung, die Tätigkeit zu beginnen.