Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

IV. Präsidium. Art. 12. 311 
IV. Die Vertagung. 
Auch die Vertagung ist das ausschließliche Recht des Kaisers. Doch 
ist dieses Recht beschränkt durch die Bestimmung des Art. 26 R.V., wonach 
die Vertagung ohne Zustimmung des Reichslags die Frist von 30 Tagen 
nicht übersteigen und während derselben Session nicht wiederholt werden 
darf. Die Vertagung bedeutet im Gegensatz zur Schließung, daß die 
Geschäfte des Reichstags nicht abgeschlossen, sondern nach Ablauf der Ver- 
tagungsfrist an dem Punkte fortgesetzt werden, an welchem sie vor der 
Vertagung unterbrochen worden sind. Die Schließung führt die sogen. 
„Diskontinuität“" herbei, d. h. auf Grund des Wortlauts der Reichsverfassung, 
auf Grund einer wörtlichen Auslegung des Begriffs der „Schließung“ ist 
von Anfang an in der Praxis und Theorie angenommen worden und un- 
bestritten geblieben, daß die Schließung die bis dahin nicht vollständig 
erledigten Arbeiten des Reichstags radikal vernichtet, sodaß alle Lesungen, 
Kommissionsberatungen usw. von neuem begonnen werden müssen, ja sogar 
daß der Reichstag, wenn er nach der Schließung wieder zusammentritt, 
sich von neuem konstituieren muß. Die Geschäftsordnung des Reichstags 
hat dies im Anschluß an die Praxis des preußischen Landtages durch § 70 
anerkannt: 
„Gesetzesvorlagen, Anträge und Petitionen find mit dem Ablaufe der 
Sitzungsperiode, in welcher fie eingebracht und noch nicht zur Beschluß- 
nahme gediehen find, für erledigt zu erachten."“ 
Dieser grundsätzliche Unterschied zwischen Vertagung und Schließung ist auch 
in einem Urteil des Reichsgerichts v. 25. Febr. 1892 (3. Strff. Bd. 22 S. 379) 
und in der Theorie allgemein anerkannt; so u. a. von Laband I S. 317, 
Zorn I S. 243, v. Rönne I S. 261, II 1 S. 16; Arndt S. 133. 
Die Frage, ob die Kommissionen des Reichstags während der Ver- 
tagung ihre Tätigkeit fortsetzen dürfen, kann zweifelhaft sein. Die Ver- 
faffung bestimmt hierüber nichts. In der Reichstagssitzung v. 16. Juni 
1882 St.B. 511 f., wurde darüber verhandelt, ohne daß es zu einer 
Beschlußfassung kam. Dagegen hat der Reichstag in der Sitzung v. 28. Juni 
1890 (St.B. 654 f.) ohne Widerspruch der Verbündeten Regierungen be- 
schlossen, nachdem er einer Vertagung bis zum 18. Nov. 1890 zugestimmt 
hatte: 
„Die zur Vorberatung des Gesetzentwurfs betr. die Abänderung der 
Gewerbeordnung — Nr. 4 der Drucksachen — gewählte Kommission zu 
ermächtigen, behufs weiterer Fortführung dieser Vorberatung bereits vom 
4. November d. J. ab zusammenzutreten.“ 
Hierin liegt ein Präzedenzfall, auf Grund dessen man die sonst recht zweifel- 
hafte Frage auf sich beruhen lassen kann. Der Beschluß des Reichstags ist 
als richtig anerkannt u. a. von Laband 1 S. 318 A. 2, Arndt S. 138 — 
anderer Ansicht Meyer § 131 A. 6 S. 449 — zweifelhaft v. Seydel S. 206. 
In der Folgezeit find noch weitere Fälle vorgekommen; vgl. V. 
Die Immunität der Abgeordneten besteht während der Vertagung eben- 
falls fort, wie das Reichsgericht in der oben angeführten Entsch. v. 25. Febr. 
1892 angenommen hat. 
Von der im Art. 12 und 26 vorgesehenen Vertagung, die zu bestimmen 
ein ausschließliches Recht des Kaisers ist, muß die kurze Unterbrechung der
	        
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