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unrechtmäßige Angriffe, aber nicht gegen Veränderungen, die von den dazu
berufenen Organen der Gesetzgebung rechtmäßig beschlossen werden. Zu den be-
rufenen Organen gehören nicht nur die gesetzgebenden Körperschaften der Einzel-
staaten, sondern auch die des Reichs selbst. Es liegt zwar nicht im Rahmen
der durch Art. 4 R.V. bestimmten Reichskompetenz, sich mit Fragen der
inneren Landesverfassung der Einzelstaaten zu beschäftigen. Daraus folgt
aber nicht, daß die Verfassungsbestimmungen der Einzelstaaten für die
Reichsgesetzgebung formell unangreifbar sind. Eine derartige Schranke ist
durch Art. 78 R.V., der die Voraussetzungen für die Erweiterung der
bestehenden Reichskompetenz enthält, nicht gezogen, und es ist insbesondere
nicht ausgeschlossen, daß ein Reichsgesetz mittelbar eine Modifikation von
Verfassungsbestimmungen der Einzelstaaten zur Folge hat, wie es z. B. bei
dem Reichsgesetz v. 21. Mai 1906 R. G. Bl. S. 468 betr. die Gewährung
einer Entschädigung für die Mitglieder des Reichstags der Fall war, das mit
dem Verbot des gleichzeitigen Bezuges von Diäten für die Teilnahme an den
Parlamentssitzungen eines Einzelstaates die Diätenvorschriften der preußischen
und anderer Verfassungsurkunden beeinflußte. Die Zulässigkeit einer solchen
Einwirkung der Reichsgesetzgebung auf die Verfassung der Einzelstaaten ist
aus Anlaß des genannten Gesetzes in der Sitzung des preußischen Ab-
geordnetenhauses v. 29. Mai 1906 eingehend erörtert und gegen den Wider-
spruch einiger Abgeordneter von den Vertretern der preußischen Staats-
regierung anerkannt worden — vgl. insbesondere die Erklärung des damaligen
Staatsministers des Innern v. Bethmann Hollweg St. B. 5457 und des
Justizministers Beseler St. B. 5485 sowie in der Reichstagssitzung v.
26. April 1906 des Staatssekretärs des Innern Graf v. Posadowsky-
Wehner St. B. 2710 f., ferner derselbe in den Reichstagssitzungen v.
10. Mai 1906 St B. 3153 B, 3156 f. und v. 15. Mai 1906 St. B. 3198 B.
Tc) Die Pflege der Wohlfahrt.
Während aus den übrigen Bestandteilen des ersten Satzes des Eingangs
der Reichsverfassung pofitive Rechtsbestimmungen zu entnehmen sind, gilt
dasselbe nicht von dem Satz, daß der Bund geschlossen sei „zur Pflege der
Wohlfahrt des Deutschen Volkes“. Die Bedeutung dieser Worte erschöpft
sich in ihrem Hinweis auf ein ideales Moment; vom juristischen Standpunkt
ist die Bestimmung zu allgemein gehalten, um nach irgendeiner Richtung
einen positiven Schluß auf das geltende Recht zu gestatten. Die Pflege
der Wohlfahrt des Deutschen Volkes umfaßt alle denkbaren Staatsaufgaben
und damit würde an sich die Kompetenz des Reichs schrankenlos ausgebildet
sein. Durch diese Fassung sind jedoch nur diejenigen Ziele gekennzeichnet,
deren Verfolgung mit der Zweckbestimmung des Reichs vereinbar ist, in
deren Rahmen also das bestehende Recht und insbesondere die Reichsver-
fassung selbst zur Erweiterung der Zuständigkeit des Reichs fortgebildet
werden kann. Der Erweiterung der Reichskompetenz sind danach keine
Grenzen gezogen. Denn es wird in dem ganzen, großen Gebiet des öffent-
lichen und privaten Rechts, im ganzen geistigen, wirtschaftlichen und poli-
tischen Leben kaum einen Gegenstand geben, der, wenn seine Regelung durch
die Gesetzgebung überhaupt möglich ist, nicht der Reichskompetenz als „der
Wohlfahrt des Deutschen Volkes“ dienend im Wege der Abänderung der
Verfassung unterstellt werden könnte. Aber für die Auslegung des geltenden