Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

24 Eingang. 
unrechtmäßige Angriffe, aber nicht gegen Veränderungen, die von den dazu 
berufenen Organen der Gesetzgebung rechtmäßig beschlossen werden. Zu den be- 
rufenen Organen gehören nicht nur die gesetzgebenden Körperschaften der Einzel- 
staaten, sondern auch die des Reichs selbst. Es liegt zwar nicht im Rahmen 
der durch Art. 4 R.V. bestimmten Reichskompetenz, sich mit Fragen der 
inneren Landesverfassung der Einzelstaaten zu beschäftigen. Daraus folgt 
aber nicht, daß die Verfassungsbestimmungen der Einzelstaaten für die 
Reichsgesetzgebung formell unangreifbar sind. Eine derartige Schranke ist 
durch Art. 78 R.V., der die Voraussetzungen für die Erweiterung der 
bestehenden Reichskompetenz enthält, nicht gezogen, und es ist insbesondere 
nicht ausgeschlossen, daß ein Reichsgesetz mittelbar eine Modifikation von 
Verfassungsbestimmungen der Einzelstaaten zur Folge hat, wie es z. B. bei 
dem Reichsgesetz v. 21. Mai 1906 R. G. Bl. S. 468 betr. die Gewährung 
einer Entschädigung für die Mitglieder des Reichstags der Fall war, das mit 
dem Verbot des gleichzeitigen Bezuges von Diäten für die Teilnahme an den 
Parlamentssitzungen eines Einzelstaates die Diätenvorschriften der preußischen 
und anderer Verfassungsurkunden beeinflußte. Die Zulässigkeit einer solchen 
Einwirkung der Reichsgesetzgebung auf die Verfassung der Einzelstaaten ist 
aus Anlaß des genannten Gesetzes in der Sitzung des preußischen Ab- 
geordnetenhauses v. 29. Mai 1906 eingehend erörtert und gegen den Wider- 
spruch einiger Abgeordneter von den Vertretern der preußischen Staats- 
regierung anerkannt worden — vgl. insbesondere die Erklärung des damaligen 
Staatsministers des Innern v. Bethmann Hollweg St. B. 5457 und des 
Justizministers Beseler St. B. 5485 sowie in der Reichstagssitzung v. 
26. April 1906 des Staatssekretärs des Innern Graf v. Posadowsky- 
Wehner St. B. 2710 f., ferner derselbe in den Reichstagssitzungen v. 
10. Mai 1906 St B. 3153 B, 3156 f. und v. 15. Mai 1906 St. B. 3198 B. 
Tc) Die Pflege der Wohlfahrt. 
Während aus den übrigen Bestandteilen des ersten Satzes des Eingangs 
der Reichsverfassung pofitive Rechtsbestimmungen zu entnehmen sind, gilt 
dasselbe nicht von dem Satz, daß der Bund geschlossen sei „zur Pflege der 
Wohlfahrt des Deutschen Volkes“. Die Bedeutung dieser Worte erschöpft 
sich in ihrem Hinweis auf ein ideales Moment; vom juristischen Standpunkt 
ist die Bestimmung zu allgemein gehalten, um nach irgendeiner Richtung 
einen positiven Schluß auf das geltende Recht zu gestatten. Die Pflege 
der Wohlfahrt des Deutschen Volkes umfaßt alle denkbaren Staatsaufgaben 
und damit würde an sich die Kompetenz des Reichs schrankenlos ausgebildet 
sein. Durch diese Fassung sind jedoch nur diejenigen Ziele gekennzeichnet, 
deren Verfolgung mit der Zweckbestimmung des Reichs vereinbar ist, in 
deren Rahmen also das bestehende Recht und insbesondere die Reichsver- 
fassung selbst zur Erweiterung der Zuständigkeit des Reichs fortgebildet 
werden kann. Der Erweiterung der Reichskompetenz sind danach keine 
Grenzen gezogen. Denn es wird in dem ganzen, großen Gebiet des öffent- 
lichen und privaten Rechts, im ganzen geistigen, wirtschaftlichen und poli- 
tischen Leben kaum einen Gegenstand geben, der, wenn seine Regelung durch 
die Gesetzgebung überhaupt möglich ist, nicht der Reichskompetenz als „der 
Wohlfahrt des Deutschen Volkes“ dienend im Wege der Abänderung der 
Verfassung unterstellt werden könnte. Aber für die Auslegung des geltenden
	        
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