IV. Präsidium. Art. 15. 319
pflichtender Form durch eine eigene, vom Reichskanzler gegenzuzeichnende
Willensäußerung kundgibt. Natürlich ist aber in dem Recht des Kaisers,
den Reichskanzler zu ernennen, auch die Befugnis inbegriffen, zu dem
ganzen Umfang seiner Tätigkeit Stellung zu nehmen, ungeachtet dessen, daß
im Rahmen des Art. 15 der Reichskanzler im eigenen Namen handelt und
sich auf kaiserliche Erlasse, die nach außen wirksam werden sollen, nicht
stützen kann. Auch bezüglich des durch Art. 15 bezeichneten Wirkungskreises
handelt der Reichskanzler daher konstitutionell, wenn er aus einer erheb-
lichen Divergenz seiner Überzeugung mit den Befehlen des Kaisers die
Konsequenz zieht, seine Stellung aufzugeben. Nach dieser Richtung besteht
zwischen den im Art. 15 und Art. 17 bezeichneten Geschäften des Reichs-
kanzlers kein Unterschied.
Über die Vorbildung und die sonstigen persönlichen Eigenschaften, die
das Amt des Reichskanzlers erfordert, enthält die Reichsverfassung keine
Bestimmung. Der für die Auswahl dem Kaiser zur Verfügung stehende
Personenkreis ist daher gesetzlich in keiner Weise beschränkt.
3. Der Vorsitz im Bundesrate.
über die Funktionen, die dem Reichskanzler bei Ausübung des Vor-
sitzes zukommen, nähere Bestimmungen zu treffen, ist Sache der Geschäfts-
ordnung des Bundesrats, also eine innere Angelegenheit des Bundesrats.
Verfassungsgemäß kann sich aber der Vorsitz des Reichskanzlers nur auf
die formelle Leitung der Geschäfte beziehen. Denn der Bundesrat stellt
keine Behörde, insbesondere auch nicht etwa eine oberste Verwaltungsbehörde
des Reichs dar, bei der eine materielle Leitung der Geschäfte überhaupt nur
in Frage kommen könnte — ebenso das Reichsgericht (Urt. v. 14. Dez. 1882
— 3. Strif. Bd. 7 S. 384). Zu den Geschäften der formalen Leitung, die
dem Reichskanzler in seiner Eigenschaft als Vorsitzenden des Bundesrats
obliegen, gehört die Sorge dafür, daß die Verordnungen des Bundesrats,
die nicht nur für den inneren Dienst der Behörden bestimmt find, sondern
für das Publikum Rechte und Pflichten begründen sollen, gehörig bekannt
gemacht werden; vgl. Laband II S. 102.
4. Die Leitung der Geschäfte.
Die Stellung des Reichskanzlers wurde durch Amendements, die im
konstituierenden Reichstage gestellt und von den Verbündeten Regierungen
angenommen wurden, schließlich ganz anders geregelt, als es dem Regierungs-
entwurf entsprach; vgl. Hänel, Studien II S. 9ff. Die Wirkung der Ande-
rung ist kurz und treffend vom Fürsten Bismarck in der Reichstagssitzung
v. 5. März 1878 St. B. S. 342 dahin charakterisiert worden:
„Nun wurde durch den Art. 17 die Bedeutung des Reichskanzlers
plötzlich zu der eines kontrasignierenden Ministers und nach der ganzen
Stellung nicht mehr eines Unterstaatssekretärs für deutsche Angelegen-
heiten im auswärtigen preußischen Ministerium, wie es ursprünglich die
Meinung war, sondern zu der eines leitenden Reichsministers herauf-
geschoben."
Art. 15 lautete ursprünglich:
„Das Präsidium ernennt den Bundeskanzler, welcher im Bundesrate
den Vorsitz führt und die Geschäfte leitet.“