Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

322 IV. Präsidium. Art. 15. 
Reichskanzler unterstellte Behörde ist, nur um die formale Leitung der Ge- 
schäfte handeln. Die formale Leitung aber hat der Reichskanzler als 
Vorsitzender des Bundesrats ohne weiteres und die besondere Hervorhebung 
dieser Kompetenz wäre daher vollkommen zwecklos. Vor dem Reichsgesetz 
betr. die Stellvertretung des Reichskanzlers v. 17. März 1878 R. G. Bl. S. 7 
besaß diese Frage eine besondere Bedeutung insofern, als es von ihr abhing, 
ob der Reichskanzler befugt war, sich auch für seine außerhalb des Bundes- 
rats liegenden Geschäfte auf Grund des Art. 15 Abs. 2 einen Vertreter zu 
bestellen, da diese Befugnis als bestehend nur angenommen werden konnte, 
wenn man davon ausging, daß die Worte „Leitung der Geschäfte“ nicht 
nur die Funktionen umfassen, die dem Reichskanzler als Vorsitzenden des 
Bundesrats zustehen. Nachdem die Frage im Reichstage lebhaft umstritten 
worden war, hat das genannte Reichsgesetz den erhobenen Zweifeln durch 
klare Bestimmungen über die Einrichtung der Stellvertretung des Reichs- 
kanzlers ein Ende gemacht. Für die Stellvertretung hat daher diese Aus- 
legungsfrage des Art. 15 keine praktische Bedeutung mehr, wohl aber noch 
für die allgemeine staatsrechtliche Stellung des Reichskanzlers und für die 
konstitutionellen Garantien seiner Stellung. Deshalb find die Erklärungen, 
die Fürst Bismarck bei der Erörterung der Stellvertretungsvorlage im 
Reichstage über die Auslegung des Art. 15 gegeben hat, auch jetzt noch 
von Bedeutung. Fürst Bismarck hat sich durchaus für die weitere Aus- 
legung des Begriffes „Leitung der Geschäfte“ ausgesprochen; er vertrat in 
der Reichstagssitzung v. 5. März 1878 St. B. 342 unter Berufung auf die 
Quellen der Verfassung und auf die ihm zur Verfügung stehenden, an die 
Entstehungsgeschichte der Bestimmung sich knüpfenden persönlichen Erfah- 
rungen mit Entschiedenheit den Standpunkt, daß schon vor dem Stell- 
vertretungsgesetz sich aus Art. 15 Abs. 2 die Befugnis für den Reichskanzler 
ergab, auch für seine außerhalb der Sphäre des Bundesrats liegenden Amts- 
geschäfte sich einen Stellvertreter zu bestellen — sodaß das Gesetz von 1878 
nur eine authentische Interpretation des bereits vorher in Geltung gewesenen 
Rechtszustandes darstellt — und diese Befugnis beruhte auf der Tatsache, 
auf die es in diesem Zusammenhange allein ankommt, daß durch Art. 15 
Abs. 1 dem Reichskanzler die Leitung der Geschäfte nicht nur im Bundes- 
rate, sondern in dem ganzen für ihn als den ersten Beamten des Kaisers 
in Betracht kommenden Umfange übertragen ist. Dem Fürsten Bismarck 
wohnte eine so sichere Kenntnis der Intentionen inne, die dem Texte der 
Reichsverfassung zugrunde lagen, daß die Gründe, die für die entgegengesetzte 
Ansicht geltend gemacht werden und die doch ebenfalls nicht auf den Wort- 
laut der Reichsverfassung, sondern auf die Entstehungsgeschichte gestützt 
werden, nicht ausreichend in das Gewicht fallen können. Wenn ursprüng- 
lich an eine außerhalb des Bundesrats liegende Wirksamkeit des Reichs- 
kanzlers überhaupt nicht gedacht war, so kann nur angenommen werden, 
daß Art. 17 den Sinn des Art. 15 rückwirkend verändert hat. Jedesfalls 
spricht die ratio legis für den hier vertretenen Standpunkt, denn wenn er 
unrichtig wäre, würde es an irgend einer pofitiven Bestimmung der Reichs- 
verfassung fehlen, die dem Reichskanzler überhaupt die Leitung der Geschäfte 
überträgt und die vorschreibt, daß dem nach Art. 17 einzig oder wenigstens 
höchst verantwortlichen Beamten des Reichs die Leitung der Geschäfte über- 
tragen werden muß; Art. 17 für sich allein würde es nicht notwendig
	        
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