Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

IV. Präsidium. Art. 15. 325 
sich noch nicht ausschließen, daß die Stellvertretung nur auf Grund einer 
Spezialvollmacht erfolgt. 
2. Das Vorrecht Bayerns auf die Stellvertretung. 
Eine den Art. 15 ergänzende Bestimmung enthält Nr. IX des Schluß- 
protokolls zum Vertrage mit Bayern v. 23. Nov. 1870 B. G. Bl. S. 24: 
„Der Kgl. Preußische Gesandte erkannte es als ein Recht der Bayrischen 
Regierung an, daß ihr Vertreter im Falle der Verhinderung Preußens 
den Vorsitz im Bundesrate führe." 
Da hier ausdrücklich vorausgesetzt ist, daß „Preußen“ und nicht etwa 
nur der Reichskanzler verhindert ist, so tritt das Bayrische Recht, das 
dekorative Bedeutung hat, de iure erst in Kraft, wenn alle preußischen 
Bevollmächtigten verhindert find. Dieses Vorrecht bedeutet also nur, daß 
der Reichskanzler nicht unter Übergehung Bayerns dem Vertreter eines 
anderen preußischen Staates an Stelle des bayrischen Stimmführers den 
Vorfitz im Bundsrat übertragen darf — ebenso Laband I S. 255, v. Seydel 
S. 169, v. Rönne I S. 207, Arndt S. 97. Tatsächlich besteht übrigens, 
wie v. Jagemann S. 84 aus der Praxis berichtet, die Gewohnheit, daß dem 
stimmführenden bayrischen Bevollmächtigten die Stellvertretung stets schon 
dann übertragen wird, wenn nur der Reichskanzler und dessen gewöhnlicher 
Stellvertreter verhindert find. An dem Vorrecht Bayerns ist durch das 
Stellvertretungsgesetz nichts geändert worden. Da im 8 4 dieses Gesetzes 
Art. 15 aufrecht erhalten worden ist, mußte auch die den Art. 15 ergänzende 
Bestimmung des Bayrischen Schlußprotokolls in Kraft bleiben. Dies hat 
Fürst Bismarck im Reichstage formell anerkannt. Bei der Verhandlung 
über das Stellvertretungsgesetz erklärte der bayrische Minister v. Pfretzschner 
in der Reichstagssitzung v. 9. März 1878 St. B. 420: 
Wenn in Zweifel gezogen werde, ob bei § 4 des Stellvertretungs- 
gesetzes mit der Aufrechterhaltung der Bestimmung des Art. 15 hinsicht- 
lich des Vorsitzes im Bundesrat der Zweck ins Auge gefaßt sei, die 
Bestimmung des Schlußprotokolls zum Versailler Vertrage außer Wirk- 
samkeit zu setzen, kraft welcher Bayern bei Verhinderung Preußens den 
Vorfitz im Bundesrat zu beanspruchen habe, so müsse er erklären, daß 
eine solche Interpretation des Paragraphen ihm ganz undenkbar sei; denn 
wenn man einen Paragraphen der Verfassung aufrecht erhalte, so erhalte 
man auch alles aufrecht, was als Ergänzung dieses Paragraphen in einem 
anderen Akt supplementarisch festgestellt sei. 
Fürst Bismarck erwiderte darauf: 
„Mir ist ein Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung, die der 
bayrische Minister soeben ausgesprochen hat, niemals beigefallen."“ 
Der Fall, daß Preußen, d. h. alle preußischen Bevollmächtigten ver- 
hindert find und deshalb Bayern an die Reihe kommen muß, dürfte kaum 
praktisch werden. Vielleicht könnte mit Rücksicht auf mögliche Bestimmungen 
der zukünftigen Reichsgesetzgebung an den Fall des Art. 7 letzter Absatz R.V. 
gedacht werden, also an die Beschlußfaffung über eine Angelegenheit, die den 
anderen Staaten außer Preußen gemeinschaftlich ist. Dann würden Preußens 
Stimmen nicht gezählt werden, aber es wäre noch fraglich, ob dann Preußen 
verhindert ist, durch seine Vertreter den Vorsitz bei der geschäftlichen Behand- 
lung der Angelegenheit auszuüben, da es denkbar ist, daß ein an der Ab-
	        
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