328 IV. Präsidium. Art. 16.
machen könne, das Art. 9 R.V. der Minorität gewähre.“ Die Angelegen-
heit erledigte sich dadurch, daß das Entlassungsgesuch nicht genehmigt wurde
und daß der Bundesrat seinen Beschluß dem Wunsch des Reichskanzlers
entsprechend abänderte; vgl. die Verhandlungen des Reichstags v. 24. Febr.
1881 und Hänel Studien II S. 46 f. Andererseits ist mit der dem Reichs-
kanzler durch Art. 16 auferlegten staatsrechtlichen Pflicht zur Einbringung der
Vorlagen die Rücksicht auf die im Reichstag über die Vorlagen herrschende
Stimmung schlechthin unvereinbar; der Reichskanzler kann und darf eine
derartige Rücksicht nicht nehmen. Auch diese Frage ist schon einmal im
Reichstage erörtert worden. Der Abg. Hänel hatte in der Reichstagssitzung
v. 3. Dez. 1875 erklärt:
„Ein Staatsmann, der verantwortliche Beamte eines Reichs, verant-
wortlich gegenüber dem Parlament, ist verpflichtet, niemals Vorlagen zu
machen, von denen er wissen muß, daß die Majorität des Hauses ihnen
niemals zur Seite steht.“
Hierauf erwiderte Fürst Bismarck in der Reichstagssitzung v. 9. Febr.
1876 (St. B. 1327#)
„Ich bin dabei nicht der Ansicht, wie ein verehrtes Mitglied der Fort-
schrittspartei, das bei Gelegenheit der ersten Beratung (der Novelle zum
Strafgesetzbuch) ausgesprochen hat, daß verantwortliche Minister über-
haupt Anträge nicht einbringen dürften, deren Annahme fie nicht voraus-
sähen. Einmal ist das unmöglich und fehlt uns die Prophetengabe,
dann aber ist, wie ich glaube, mit Proklamierung eines solchen Prinzips
der monarchische Boden verlassen und der der republikanischen Selbst-
regierung der gesetzgebenden Versammlung betreten. Ich würde dann,
wenn ich diesen Satz annehmen müßte, nicht mehr Minister des Kaisers
sein, sondern Minister der Versammlung. Es ist das eben ein wesent-
liches Unterscheidungsmerkmal der republikanischen und monarchischen Ver-
fassung, in der wir im Reiche leben. Ich vindiziere uns das Recht,
auch solche Anträge einzubringen, von denen wir mit ziemlicher Wahr-
scheinlichkeit voraussehen, daß sie verworfen werden, um eine Diskussion
darüber anzuregen in diesen Räumen und im Lande, eine Diskussion,
die, wie ich schon früher bemerkte, sich jahrelang hinziehen kann, und um
unter Umständen von einem Reichstag zum andern zu appellieren, bis
etwa die Überzeugung in der Regierung sich ändert.“
In dem gleichen Sinne hat sich Fürst Bismarck in einem vertraulichen
Erlaß v. 18. Okt. 1868 geäußert (v. Poschinger Aktenstücke I S. 120); vgl.
auch Rofin Grundzüge S. 81.
Aus der Vorschrift, daß die Vorlagen „im Namen des Kaisers“ an
den Reichstag gebracht werden, wird gefolgert, daß dem Reichskanzler für
jede einzelne Vorlage eine spezielle kaiserliche Ermächtigung erteilt werden
müsse; so Laband II S. 24, Zorn 1 S. 410. In der Reichsverfassung ist
dies ausdrücklich nicht bestimmt und die Bedeutung der Bestimmung
kann ohne Zwang dahin ausgelegt werden, daß durch sie nur festgelegt
werden soll, daß es der Kaiser ist, der dem Reichstage gegenüber in dieser
Beziehung die Regierungsgewalt des Reichs vertritt, nicht der Bundesrat.
Der Reichskanzler bedarf der Vollmacht, um im Namen des Kaisers handeln
zu können, aber hier wie anderwärts leistet eine Generalvollmacht dieselben
Dienste wie eine Spezialvollmacht, die für jeden einzelnen Fall ausgestellt wird.