Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

334 IV. Präsidium. Art. 17. 
Regel ist, die Einzelstaaten ausschließlich zuständig find, soweit sie eine 
eigene Kontingentsverwaltung haben, d. i. Preußen, Bayern, Sachsen und 
Württemberg. Dasselbe gilt für alle — sehr zahlreichen — Fälle, in denen 
durch Reichsgesetze dem Kaiser der Erlaß von Ausführungsverordnungen 
besonders übertragen ist. Ein Notverordnungsrecht nach dem Vorgang des 
Art. 63 der preuß. Verfassungsurkunde, d. h. den Erlaß von Verordnungen 
in Eilfällen ohne Zuziehung des Reichstags mit einstweiliger Gesetzeskraft, 
kennt die Reichsverfasfung nicht; vgl. Art. 7 Alll S. 229. Für die eigene 
Verordnungsgewalt des Reichskanzlers bleiben danach die — übrigens auch 
sehr zahlreichen — Fälle übrig, für die ihm der Erlaß von Verordnungen 
durch positive Vorschriften der Reichsgesetzgebung übertragen ist. Dabei ist 
zu berücksichtigen, daß überall, wo in der Reichsverfassung oder in der 
sonstigen Reichsgesetzgebung die Erledigung von Staatsaufgaben — Erlaß 
von Anordnungen oder anderen Verwaltungsgeschäften — dem Kaiser zu- 
geschrieben ist, dies tatsächlich — abgesehen vom Armeekommando — die 
Erledigung durch den Reichskanzler und seine Stellvertreter unter Ausschluß 
nicht nur der Einzelstaaten, sondern auch des Bundesrats und des Reichs- 
tags bedeutet; ebenso Laband 1 S. 343. Ferner ist Sache des Reichskanzlers 
die Vermittelung des Verkehrs zwischen dem Bundesrat und dem Reichs- 
tage in Angelegenheiten der Gesetzgebung und die Vermittelung zwischen 
dem Bundesrat einerseits und den Verwaltungs- und Justizbehörden des 
Reichs andererseits in Angelegenheiten der Verwaltung und der Justizver- 
waltung. Der Schwerpunkt der Stellung des Reichskanzlers liegt aber in 
der Vermittelung zwischen dem Kaiser und der Volksvertretung im Sinne 
der Verhütung und des Ausgleichs etwaiger Differenzen. Im konst. Reichs- 
tage, Sitzung v. 26. März 1867 St. B. 362 hat dies der Abg. v. Gerber 
durch folgende Bemerkung anerkannt: 
„Der Bundeskanzler ist der natürliche vermittelnde Beamte zwischen dem 
Bundespräsidium und dem Reichstage; er ist der eigentliche Bundesminister.“ 
— eine Rolle, die namentlich dann überaus bedeutungsvoll wird, wenn 
zwischen der unabhängigen Krone und dem in seinem Geschäftskreise staats- 
rechtlich ebenfalls unabhängigen Parlament eine Divergenz der politischen 
Empfindungen besteht. 
In dem Amte des Reichskanzlers ist danach ein ungeheures Maß von 
Machtfülle vereinigt. Zwar muß wie das gesamte Wirtschaftsleben die Or- 
ganisation der staatlichen Macht auf Arbeitsteilung beruhen, weil der laufende 
Geschäftsgang zu seiner Bewältigung technische Kenntnisse und Spezialisten 
erfordert. Aber die besondere Struktur des Reichs als eines föderativen 
Staatengebildes, dem nur die Rücksicht auf die historisch begründeten Rechte 
der Einzelstaaten innere Festigkeit verleiht, verlangt eine einheitliche Be- 
hördenverfassung, einheitlich wenigstens in ihrer obersten Spitze, und daraus 
ergibt sich, daß die große Anzahl von Behörden und Beamten, die zur Er- 
ledigung der vorhandenen Arbeitslast herangezogen werden muß, die Führung 
nur durch ein verantwortliches Haupt hat; das hierin liegende Prinzip ist 
durch die Einsetzung verantwortlicher Staatssekretäre mehr faktisch als staats- 
rechtlich modifiziert. 
Das Gegengewicht für die Macht des Reichskanzlers liegt in der Ver- 
antwortung; der gewaltigen Macht entspricht ein ebenso großes Maß von 
Verantwortung.
	        
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