IV. Präsidium. Art. 17. 335
Um das Ergebnis der folgenden Ausführungen vorweg zu nehmen,
werden für die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers folgende Leitsätze auf-
gestellt:
1. Der Reichskanzler ist juristisch verantwortlich nur in demselben Um-
fange wie jeder andere Reichs= oder Staatsbeamte nach Maßgabe der
straf= und zivilrechtlichen Vorschriften des öffentlichen und Privatrechts,
und zwar gilt dies nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nur für die-
jenigen Amtshandlungen, die lediglich von seinem eigenen Willen
abhängig find.
2. Nach der pofitiven Vorschrift des Art. 17 erstreckt sich die Verant-
wortung des Reichskanzlers über den Kreis seiner eigenen Anordnungen
hinaus auf die Befehle des Kaisers, für die der Reichskanzler durch
seine Gegenzeichnung die Verantwortung übernimmt; er muß die Ver-
antwortung übernehmen, anderesfalls kann der Erlaß nicht gültig
werden. Dies ist die außerhalb der allgemein gültigen Gesetzgebung
für den Reichskanzler verfassungsmäßig besonders begründete Verant-
wortlichkeit. Die Vorschrift bedeutet also, daß der Reichskanzler für
die kaiserlichen Erlasse in dem gleichen Umfange verantwortlich ist,
wie wenn es sich um Anordnungen handelte, die ausschließlich von
seinem eigenen Willen abhängen. Für den theoretisch denkbaren Fall,
daß durch Kaiserliche Erlasse Handlungen herbeigeführt werden, die
eine Verletzung der bestehenden Straf= und Zivilgesetze zur Folge haben,
müßte der Reichskanzler die gesetzlichen Folgen in gleicher Weise
tragen, wie jeder Reichsbeamte, der durch Amtshandlungen dieselben
Gesetze verletzt. Von praktischer Bedeutung ist allerdings nur die
Verantwortung für solche Fragen, die unter dem Gesichtspunkt poli-
tischer Zweckmäßigkeit zu beurteilen find, und insofern ist die Ver-
antwortlichkeit nicht mehr als ein politisches Prinzip, ohne dadurch
an realer Bedeutung einzubüßen, weil hinter ihr die Macht der öffent-
lichen Meinung steht.
3. Die allgemeine moralische, historische und politische Verantwortung
trägt der Reichskanzler, ohne daß es dafür irgend einer positiven Vor-
schrift bedarf, auch für alle Ereignisse im Staatsleben, deren Gang
zu beeinflussen er in der Lage ist. Diese Verantwortung deckt sich
genau mit seiner tatsächlichen Macht, und insofern trifft den Reichs-
kanzler sein Teil Verantwortung selbst an Maßregeln der Gesetzgebung.
Es bleiben im einzelnen die Fragen zu erörtern:
a) worauf erstreckt sich die Verantwortung?
b) wer kann sie geltend machen?
J) worin besteht fie?
III. Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers.
a) Für die Leitung der Geschäfte im Reich.
Da der Reichskanzler der Chef aller Ressorts ist, für die überhaupt
Reichsbehörden bestellt find, ist er für alle von ihm im Rahmen dieser Exe-
kutivgewalt getroffenen Anordnungen verantwortlich. Es ist dabei gleich-
gültig, ob es sich um Anordnungen allgemeiner Natur oder nur um solche
handelt, deren Bedeutung durch den einzelnen Fall, auf den sie sich beziehen,