Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

338 IV. Präsidium. Art. 17. 
ihnen ist der Reichskanzler verantwortlich, und nach dem allgemeinen Grund- 
satz, daß Unterlassungen eine Verantwortung begründen, wenn die Pflicht zu 
handeln besteht, kann aus der Unterlaffung von Kontrollmaßregeln und 
Erinnerungen sich eine Verantwortlichkeit des Reichskanzlers ergeben. Fürst 
Bismarck hat diese Verantwortlichkeit im Prinzip einmal anerkannt, aller- 
dings in einem Zusammenhang und für einen Fall, für den man sie nach 
allgemeinen Grundsätzen nicht anerkennen kann. Es handelte sich um das 
Reichs-Eisenbahnprojekt, und Fürst Bismarck nahm damals an, daß er für 
die bisherige Unterlassung der Ausführung der auf das Eisenbahnwesen be- 
züglichen Verfassungsbestimmungen verantwortlich sei. Die Argumentation 
war rein politischer Natur und nur auf die damalige konkrete politische Lage 
gegründet. Immerhin hat sich Fürst Bismarck damals — in der Reichs- 
tagssitzung v. 17. Mai 1873 St. B. 711 — ausdrücklich zu der Verant- 
wortung für Unterlassungen bekannt. 
Natürlich kann die Verantwortung auch durch pofitive Handlungen auf 
dem Gebiete der überwachung begründet werden, wenn zuviel oder nicht das 
Richtige im gegebenen Falle angeordnet wird. Es ist in dieser Beziehung 
zu berücksichtigen, daß, abgesehen von verhältnismäßig wenigen Gebieten: 
Diplomatie und Konsulatswesen, Marine, Post und Telegraphie — die 
meisten anderen nach Art. 4 R.V. im Wege der Reichsgesetzgebung geregelten 
Angelegenheiten der Verwaltung der Einzelstaaten überlassen find und daß 
diese Verwaltung von ihnen kraft eigenen Rechts und im eigenen Namen 
ausgeführt wird, selbst dann, wenn die Verwaltung für Rechnung des 
Reichs geführt wird, wie es bei der Militärverwaltung und in gewissem 
Grade bei der Verwaltung der Zölle und indirekten Steuern der Fall ist; 
vgl. Laband II S. 194. Die Regierungen der Einzelstaaten sind dabei grund- 
sätzlich Herren im eigenen Hause geblieben, und die Rechte der Reichsver- 
waltung find nach verschiedenen Richtungen eingeschränkt — abgesehen von 
der Militärverwaltung, für die besondere Vorschriften gelten. 
Eine dieser Einschänkungen besteht darin, daß aus Zweckmäßigkeits- 
erwägungen die Reichsverwaltung keinen Grund zu einem Eingriff in die 
Gesetzgebung oder Verwaltung der Einzelstaaten herleiten darf. Deshalb 
können auch gegen landesrechtliche Bestimmungen, die in Ansehung ihrer 
Zweckbestimmung mit dem Reichsrecht nicht im Einklang stehen, aus solchen 
Zweckmäßigkeitsrücksichten Bedenken nicht hergeleitet werden, sondern nur 
wegen formeller Verletzung des Reichsrechts; vgl. die Ausführungen des 
Staatssekretärs des Reichsjustizamts Nieberding in der Reichstagssitzung v. 
11. Juni 1900 St. B. 5964; vgl. auch Art. 4 A1 2 S. 103f. 
Ferner kann der Reichskanzler, selbst wenn er Mängel bei der Aus- 
führung der Reichsgesetzgebung festgestellt hat, sei es, daß sie in der Hand- 
habung der Verwaltung oder in entgegenstehenden, formell nicht aufgehobenen 
Vorschriften des Landesrechts liegen, den Einzelstaaten gegenüber nicht direkt 
eingreifen, sondern nur in dem Bundesrat einen Antrag stellen, weil es 
gemäß Art. 7 Ziff. 3 R.V. zu dessen Kompetenz gehört, über Mängel zu 
beschließen, die bei der Ausführung der Reichsgesetze oder der zur Aus- 
führung der Reichsgesetze erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften 
hervortreten. Bevor dieses — äußerste — Mittel angewendet wird, kann 
die Reichsverwaltung die betreffende Regierung des Einzelstaates auf den 
Fehler aufmerksam machen und, wenn der Schriftwechsel nicht zu einer
	        
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