342 IV. Präsidium. Art. 17.
den der Reichskanzler auf die Gesetzgebung hat, und der tatsächliche Einfluß
beruht einmal darauf, daß in den meisten Fällen die Reichsgesetze von
Beamten ausgearbeitet werden, die dem Reichskanzler unterstellt sind, und
ferner auf dem persönlichen Einfluß, der dem Reichskanzler im Parlament
zusteht. Der letztere Faktor ist eine variable Größe. Entsprechend dem
mehr oder weniger großen Einfluß, den der eine oder andere Kanzler der
Volksvertretung gegenüber oder den derselbe Kanzler in der einen oder
anderen Frage hat, wird deshalb das Maß der politischen Verantwortung
des Reichskanzlers für die Beschlüsse des Reichstags steigen oder fallen; vgl.
die Ausführungen des Fürsten Bismarck in der Reichstagssitzung v. 1. Dez.
1874 St. B. 422. Freilich darf der Umfang der politischen Verantwortung,
die den Reichskanzler unter diesen Gesichtspunkten trifft, nicht überschätzt
werden. Der Reichskanzler als solcher kann formell die Initiative zur
Gesetzgebung nicht ergreifen. Dies kann nur der Bundesrat und der Reichs-
tag tun, und der Reichskanzler ist dabei nur innerhalb des Bundesrats als
Führer der preußischen Stimmen beteiligt. Wer aber die Initiative hat,
ist einmal dafür verantwortlich, wenn notwendige gesetzgeberische Maßregeln
unterbleiben, ferner trifft auch für die geschehenen Maßregeln denjenigen eine
erhöhte Verantwortung, der die Initiative ergriffen hat, weil mit der Ini-
tiative in der Regel eine Bewegung entfesselt wird, der in vielen Fällen nicht
mehr Halt zu gebieten ist. An jeden Gesetzentwurf knüpfen sich eine Fülle
von Erwartungen der Interessenten, die wieder zum Schweigen zu bringen
oft nicht leicht ist und mehr Energie erfordert, als notwendig gewesen wäre, um
den bestehenden Zustand lediglich aufrechtzuerhalten, wenn diese Interessen nicht
erst in Bewegung gesetzt worden wären. Diese durch das Recht der Initiative
dem Bundesrat und dem Reichstag sowohl für die geschehenen wie für die unter-
bliebenen gesetzgeberischen Maßregeln auferlegte politische Verantwortung hat
Fürst Bismarck in der Reichstagssitzung v. 12. Dez. 1876 St. B. 762 erörtert.
In der Regel kommen die Gesetzesvorlagen vom Bundesrat an den
Reichstag, der Bundesrat erhält sie vom Reichskanzler, und dem Reichs-
kanzler werden sie von den ihm unterstellten Beamten des Reichs ausgearbeitet.
Man kann aber nicht, um die politische und moralische Verantwortlichkeit
für Gesetzesvorlagen aufzudecken, bis an diese ersten Quellen des Entwurfs
zurückgehen. Die mit den technischen Vorarbeiten beauftragten Stellen (Vor-
tragende Räte in den Ministerien und obersten Reichsämtern) müssen bezüglich
der Verantwortung als durch ihre Chefs und diese wiederum, wenigstens
soweit sie Stellvertreter des Reichskanzlers sind und es sich um Gesetzentwürfe
von großer allgemeiner politischer Bedeutung handelt, als durch die Ver-
antwortung des Reichskanzlers nach außen gedeckt angesehen werden. Denn
man kann in der Außenwelt nicht wissen, wie weit diese ersten Ausarbeiter
des Entwurfs in ihren Entschließungen frei und wie weit sie bezüglich des
von ihnen einzuschlagenden Weges durch Anweisung von Stellen, denen sie
verfaffungsgemäß und nach der Dienstpragmatik zum Gehorsam verpflichtet
find, gebunden waren. Als in neuerer Zeit einmal im Reichstage von der
Mitarbeit vortragender Räte an einem Gesetzentwurf in dem Sinne gesprochen
wurde, daß von diesen Beamten die Verantwortung für den Gesetzentwurf
zu tragen sei, hat in der Reichstagssitzung v. 26. Nov. 1906 St.B. 38880D
der Staatssekretär des Innern Graf v. Posadowsky-Wehner diesen Stand-
punkt mit Recht bekämpft.