IV. Präfidium. Art. 17. 343
Der Reichskanzler und seine Stellvertreter werden wiederum ihrerseits
mindestens zum Teil gedeckt durch den Bundesrat. Ihnen die volle poli-
tische Verantwortung für Maßregeln der Gesetzgebung zuschieben, hieße der
Mitwirkung des Bundesrats gar keine Bedeutung beimessen, und dies wäre
ficherlich falsch. Wieviel von dem Gesamtgewicht der Verantwortung auf den
einen oder anderen Faktor entfällt, ist nach einem bestimmten Maßstab nicht
zu entscheiden und ist auch im einzelnen Falle verschieden. Maßgebend ist
dabei u. a. der Umstand, ob der Bundesrat den Entwurf des Reichskanzlers
unverändert angenommen oder ihn abgeändert hat. Der Reichskanzler kann
nicht aus jedem vom Bundesrat beschlossenen Amendement eine Kabinetts-
frage machen, wenigstens nicht in Dingen, die für den Staat keine Lebens-
fragen sind, und natürlich trifft ihn für die vom Bundesrat beschlossenen
Abänderungen die politische Verantwortung nicht in dem gleichen Maße
wie für die seiner eigenen Initiative entsprungenen Teile des Gesetzentwurfs;
vergl. die Ausführung des Staatssekretärs des Innern Graf Posadowsky-
Wehner in der Reichstagssitzung v. 28. Jan. 1902 St. B. 3703 A. B.
Die Gegner dieser Ansicht können sich nicht auf die Reichsverfassung
berufen. Denn durch Art. 17 ist dem Reichskanzler die ausschließliche Ver-
antwortung nur für kaiserliche Erlasse, also für die Ausführung der Gesetze,
übertragen. Dabei handelt es sich nicht nur um die politische, sondern,
soweit die mit einer straf= oder civilrechtlichen Haftung verbundene Verletzung
von Reichsgesetzen in Frage kommt, auch um die juristische Verantwortung.
Bei Maßregeln der Gesetzgebung aber kann nur die politische Verantwortung
in Betracht kommen, und hierüber bestimmt die Reichsverfassung nichts.
Die wechselseitige Stellung des Reichskanzlers und des Bundesrats bedingt
es, daß jeder von beiden Faktoren nach Maßgabe des Gewichts seines poli-
tischen Einflusses seinen Anteil an der Verantwortung trägt. Dabei ist zu
berücksichtigen, daß dem Reichskanzler im Bundesrat nicht die dort als
Mitglieder fungierenden einzelnen Staatsbeamten, sondern die Verbündeten
Regierungen mit dem ganzen Gewicht ihrer auf historische Traditionen und
auf die Kontinuität ihrer Staats= und Reichspolitik gegründeten Machtfülle
gegenüberstehen. Wie der Staatssekretär des Innern in seiner angezogenen
Erklärung v. 28. Jan. 1902 ausgeführt hat, ist es aus tatsächlichen Gründen
sehr unwahrscheinlich, daß zwischen Bundesrat und Reichskanzler eine solche
Divergenz der politischen Ansichten bestehen sollte, daß der Reichskanzler
in Fragen von fundamentaler politischer Bedeutung seinen Standpunkt
nicht durchsetzen kann. Denkbar ist der Fall aber, und dann ergibt sich
ein Konflikt, für den die Lösung schwierig ist. Tritt ein solcher Zwiespalt
mit dem Reichstag ein, so ist — wenn der Reichskanzler nicht zurück-
tritt — das einzige konstitutionelle und verfassungsmäßige Mittel durch
pofitive Bestimmung der Reichsverfassung gegeben: Der Reichstag wird
aufgelöft. Dem Bundesrat gegenüber besteht dieser Ausweg nicht. In
Fragen von großer politischer Bedeutung wird sich der Reichskanzler einem
Mehrheitsbeschluß des Bundesrats nicht fügen wollen; es wird also nur
sein Rücktritt übrigbleiben. Fürst Bismarck hat diese Frage einmal in
der Reichstagssitzung v. 24. Febr. 1881 St. B. 30 erörtert und dabei ge-
äußert — allerdings mehr angedeutet als klar ausgesprochen — daß der
Reichskanzler im äußersten Falle befugt sei es abzulehnen, den Beschluß
des Bundesrats vor den Reichstag zu bringen. Der Bestimmung des Art. 16