Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

344 IV. Präsidium. Art. 17. 
R.V. würde dies nicht entsprechen, weil damit dem Kaiser und Kanzler ein 
Vetorecht in der Gesetzgebung zugestanden werden müßte, das ihm unzweifel- 
haft nicht zusteht. Fürst Bismarck hat wohl mehr daran gedacht, daß 
unter außerordentlichen Verhältnissen, wenn die Bedingungen für den ver- 
fassungsmäßigen Zustand der Dinge nicht mehr als gegeben angesehen 
werden können, der Kanzler hierin einen faktisch bestehenden Ausweg sieht. 
Die Verfassung setzt, da sie für Reichsgesetze nach Art. 5 nicht mehr als 
übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse des Bundesrats und Reichstags ver- 
langt, eine Mitwirkung des Reichskanzlers in dessen Eigenschaft als Minister 
des Kaisers nicht voraus. Deshalb muß angenommen werden, daß es nicht 
dem freien Willen des Reichskanzlers überlassen ist, ob er den Beschluß 
des Bundesrats an den Reichstag weitergeben will oder nicht, sondern daß 
es seine verfassungsmäßige Pflicht ist und daß er es auf Grund des Art. 16 
nur aus formalen Gründen ablehnen kann. Will der Kanzler bei einem 
Beschluß, den er für unheilvoll anfieht, durchaus nicht mitwirken, so bleibt 
ihm nur übrig, seine Entlassung zu nehmen. Ein anderweitiges Herkommen, 
dessen Fürst Bismarck am Schlusse seiner Ausführungen Erwähnung tat, 
hat sich bisher nicht gebildet, und wird sich, da der Fall eines Konfliktes 
zwischen Bundesrat und Kanzler überaus selten ist, kaum bilden. Wenn 
der Kaiser in einem solchen Falle dem Kanzler die Entlassung versagt, fehlen 
die Voraussetzungen, auf denen der verfassungsmäßige Gang der Ereignisse 
beruht (vgl. Art. 16 1 S. 326); der Kanzler mag dann unter seiner vollen 
und ausschließlichen Verantwortung den Weg gehen, den er für den richtigen 
hält, und aus einem solchen Zusammenhange wird sich das Veto ergeben, 
das Fürst Bismarck in seinen Ausführungen v. 24. Febr. 1881 als „faktisch“ 
in Übereinstimmung mit dem Präsidenten des vormaligen Reichs-Oberhandels- 
gerichts Pape bezeichnet hat. Daß der Kaiser als solcher kein verfassungs- 
mäßiges Recht auf Mitwirkung bei der Gesetzgebung besitzt, hat übrigens 
Fürst Bismarck bei anderer Gelegenheit selbst anerkannt — vgl. die Aus- 
führungen in seinen Gedanken und Erinnerungen II, 33; dort hat Fürst 
Bismarck die Frage, ob der Reichskanzler das Recht habe, „das Kaiserliche 
Übersendungsschreiben, vermittelst dessen Vorlagen der Verbündeten Regie- 
rungen (Art. 16) an den Reichstag gelangen, durch Verweigerung der Gegen- 
zeichnung zu inhibieren"“, als zweifelhaft behandelt und unentschieden ge- 
lassen; vgl. ferner Art. 2 III 1 S. 46 f. und Art. 5 A 2 S. 171 ., wo auch 
auf die Thronrede v. 25. Juni 1888 verwiesen ist. 
Die juristische Verantwortung ist im Art. 17 nur für Anordnungen 
und Verfügungen ausgesprochen, weil im Rechtssinne nur aus Handlungen 
oder allenfalls ihrem Gegenteil — Unterlassungen — eine Verantwortung 
entspringen kann. Durch eine einfache Meinungsäußerung, mag fie von 
noch so hochgestellten Organen des Reichs ausgehen, wird nicht leicht 
in der Außenwelt eine solche Wirkung hervorgerufen, daß darauf eine 
juristische Verantwortung gestützt werden kann, wohl aber eine Ver- 
antwortung im politischen Sinne. Dies gilt insbesondere von den An- 
sichten, die der Kanzler oder seine Vertreter und Kommissarien bei der 
Begründung eines Gesetzentwurfs an verantwortlicher Stelle im Reichs- 
tage äußern. Es können daraus für die Auslegung des Gesetzes die weit- 
gehendsten Schlüsse gezogen werden und es ist daher anzunehmen, daß 
der Kanzler und seine Stellvertreter die volle politische Verantwortung für
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.