346 IV. Präsidium. Art. 17.
fluß dem Reichstage gegenüber anwendet, für die daraus entspringende
Wirkung die moralische und politische Verantwortung trägt. Natürlich be-
zieht sich die Verantwortung nur auf die Erklärungen, die an amtlicher
Stelle im Rahmen der Kompetenz des betreffenden Regierungsvertreters und
im Rahmen der vom Kanzler vertretenen Politik abgegeben werden, nicht
auf Äußerungen, die der eine oder andere Regierungsvertreter als Privat-
mann außerhalb seines Amts ausspricht oder die er etwa vor seinem Ein-
tritt in das Amt getan hat; vgl. die Ausführungen des Staatssekretärs des
Innern Graf Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 23. Jan. 1902
St. B. 3610 C.
b) Richterliche Entscheidungen.
Ohne daß die Montesquieusche Lehre von der Trennung der Gewalten
in der Reichsverfassung zu ausdrücklicher Anerkennung gelangt ist, liegt der
Reichsverfassung wie jeder modernen Verfassung eine klare Trennung zwischen
Justiz und Verwaltung zugrunde. Dem Reichskanzler ist die administrative
Gewalt anvertraut, und zwar in vollem Umfange dergestalt, daß niemand
außer ihm und neben ihm administrative Funktionen ausüben kann, sondern
nur unter ihm. Alle Verwaltungsbeamten des Reichs sind ihm unterstellt
und besitzen de iure eine Selbständigkeit der Entscheidung nur soweit und
solange, als der Reichskanzler nicht einschreitet, was zu tun und zu unter-
lassen lediglich in seinem freien Belieben steht. Die gesetzgebende Gewalt
ist dem Bundesrat und Reichstag vorbehalten; in fie darf der Reichs-
kanzler mit seinen administrativen Befugnissen nicht eingreifen. Die dritte
der drei Gewalten, die richterliche, ist von den unabhängigen Gerichten
wahrzunehmen. Da die Ausübung der Rechtspflege im allgemeinen
Sache der Einzelstaaten ist, bleibt für das Reich nur ein beschränkter Teil
übrig: nämlich die Funktionen des Reichsgerichts, der Disziplinarkammern
und des Disziplinarhofes, der Konsulargerichte, die richterliche Tätigkeit des
Reichs-Verficherungsamts, des Reichs-Patentamts, des Kaiserlichen Aufsichts-
amts für Privatversicherung, des Bundesamts für das Heimatwesen, der
Seeämter und Prisengerichte und des verstärkten Reichs-Eisenbahnamts. Die
Verantwortlichkeit des Reichskanzlers erstreckt sich nicht auf die Entscheidungen
dieser richterlichen Behörden, im Gegenteil, sie erstreckt sich darauf, daß kein
Verwaltungsorgan ihre Unabhängigkeit stört. Dem Reichskanzler steht gegen-
über den richterlichen Behörden die Justizverwaltung in demselben Umfange
zu, wie sie in den Einzelstaaten die Justizminister für die mit den Ge-
schäften des ordentlichen Rechtsweges beauftragten Gerichte ausüben; vgl.
Laband ! S. 348. Dabei handelt es sich um eine Verwaltungstätigkeit, für
die der Reichskanzler in vollem Umfange verantwortlich ist; seine juristische
Verantwortlichkeit bestimmt sich, soweit er die Geschäfte der Justizverwal-
tung auf Grund seiner allgemeinen Befugnis zur Leitung der Geschäfte im
Reich wahrnimmt, z. B. im Rahmen der dem Reichskanzler zustehenden
obersten Leitung der Reichsanwaltschaft, nach den allgemeinen Civil- und
Strafgesetzen, und soweit er die Justizverwaltung betreffende Kaiserliche Er-
lasse gegenzeichnet, gemäß Art. 17 R.V. in gleicher Weise; vgl. Art. 4 S. 110.
Dem Reichskanzler steht nicht die Befugnis zu einer einseitigen
authentischen Interpretation der Gesetze zu. Soll ihre Auslegung nicht der
freien richterlichen Tätigkeit überlassen werden, so kann eine authentische
Interpretation — mit Wirkung gegenüber den Gerichten — nur in der