356 IV. Präsidium. Art. 17.
V. Wem ist der Reichskanzler verantwortlich?
a) Das Verhältnis zum Kaiser.
Die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers erstreckt sich in Ansehung des
Personenkreises, der sie geltend machen kann, nach mehreren Richtungen.
Im Mittelpunkt steht die Verantwortung gegenüber dem Kaiser, der den
Reichskanzler anstellt und entläßt; vgl. Laband 1 S. 346, Zorn I S. 256,
Jellinek in Grünhuts Zeitschrift Bd. 10 S. 304 ff. Der Reichskanzler ist
dem Kaiser dafür verantwortlich, daß der dem Kanzler unterstellte Behörden-
apparat ordnungsmäßig funktioniert und bei der Verwaltung nicht nur die
gesetzlichen Vorschriften beobachtet, sondern auch die vom Kaiser bestimmte
Richtung der Politik innegehalten wird. Dem Kaiser gegenüber konzentriert
sich die Verantwortung für die gesamte Tätigkeit der Reichsbehörden in der
Person des Reichskanzlers, weil letzterem die Direktive über alle diese Behörden.
anvertraut ist. Natürlich handelt es sich dabei nur um die Verwaltungs-
und nicht um die richterlichen Behörden. Fehler in den Funktionen der
Behörden, die nicht auf den einzelnen Fall zurückzuführen fsind und deren
Bedeutung nicht durch den einzelnen Fall erschöpft wird, sondern die Sym-
ptome für Mängel des ganzen Systems sind, werden dem Reichskanzler zur
Last gelegt, als Aquivalent für die weitgehenden Machtbefugnisse, die ihm
innerhalb seines Ressorts zustehen. Andererseits ergibt sich aus der Un-
verletzlichkeit des Kaisers die Notwendigkeit, daß alle Staatsakte des Kaisers
nach außen, insbesondere der Volksvertretung gegenüber, durch ein ver-
antwortliches Organ gedeckt werden müssen, und dieses Organ ist nach
Art. 17 wiederum der Reichskanzler. Der Kaiser muß in der Lage sein,
aus jeder politisch schwierigen Lage sich dadurch zu befreien, daß er den
Standpunkt einnimmt, die Verantwortung für die geschehenen Ereignisse als
konstitutioneller Monarch abzulehnen und sie dem — abtretenden oder im
Amte verbleibenden — Reichskanzler zu überlassen.
Dagegen dürfen die verantwortlichen Minister, im Reiche also der
Kanzler, niemals das umgekehrte Verhältnis eintreten lassen und sich nach
außen gegen ihre Verantwortung durch Berufung auf den Monarchen decken.
Greift der Kaiser ein, sei es in einer für die Offentlichkeit bestimmten
Form, sei es nur im internen Geschäftsverkehr der verwaltenden Reichs-
organe und hängt deshalb der Geschäftsgang nicht mehr ausschließlich von
dem Willen des Reichskanzlers ab, so bleibt die politische Verantwortlichkeit
des Reichskanzlers nach außen grundsätzlich bestehen, auch wenn es sich nicht
um einen förmlich gegengezeichneten kaiserlichen Erlaß handelt, während im
Verhältnis zum Kaiser selbst die Verantwortung natürlich sich entsprechend
modifizieren muß.
b) Das Verhältnis zum Bundesrat.
Die Frage der Ministerverantwortlichkeit wird im Reiche durch die
Mitwirkung des Bundesrats kompliziert. Der Bundesrat ist an der Ver-
waltung beteiligt, da einzelne Verwaltungsressorts seiner ausschließlichen
und höchsten Entscheidung unterworfen sind. Der Reichskanzler ist für diese
Entscheidungen nicht verantwortlich. Denn daß man für die Handlungen
anderer verantwortlich ist, bildet in der ganzen Rechtsordnung eine Anomalie,
die einer pofitiven Bestimmung bedarf. Diese Vorschrift ist im Art. 17
für den Reichskanzler gegeben, bezieht sich aber nur auf die kaiserlichen