Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

IV. Präsidium. Art. 17. 367 
Art. 15 R.V., wonach es im Reiche der Kaiser ist, der den Reichskanzler 
ernennt und folgerichtig auch allein zu entlassen hat. 
Sicherlich handelt der Reichstag nur verfassungsmäßig, wenn er zu 
Gesetzentwürfen, die der Überzeugung seiner Mehrheit nicht entsprechen, die 
Genehmigung versagt. Aber mit der Versagung des Budgets müßte, wenn 
daraus die Konsequenzen in formaler Weise gezogen würden, das ganze 
Staatsleben zum Stillstand kommen, und wenn dieses Mittel benutzt wird, 
um die Regierung zu Fall zu bringen und an ihre Stelle die der Parla- 
mentsmehrheit genehmen Personen zu bringen und durch sie bestimmte 
Regierungsmaßregeln zu erzwingen, so dedeutet dies nichts anderes, als 
daß das verfassungsmäßige Recht des Königs und Kaisers, die leitenden 
Staatsmänner zu ernennen, umgangen, und ihm sein verfassungsmäßiges 
Recht die Exekutive zu leiten genommen wird. Das parlamentarische System 
ist also weder im Reiche noch in Preußen rechtens. Es ist aber auch un- 
ausführbar, weil es an einer großen, in sich homogenen politischen Partei 
fehlt, die für sich allein eine Parlamentsmehrheit bilden kann. Fürst 
Bismarck hat sich während seiner ganzen Amtszeit als entschiedener Gegner 
des parlamentarischen Systems für Deutschland bekannt; vgl. die bei Rofin 
Grundzüge S. 7 angeführten Citate, namentlich die Erklärungen des Fürsten 
Bismarck in der Sitzung des preuß. Abgeordnetenhauses v. 25. Jan. 1873 
und des Reichskanzlers Fürst Bülow aus der Reichstagssitzung v. 14. Nov. 
1906 St. B. 3649 CD, aus deren sachlicher Übereinstimmung und zeit- 
licher Verschiedenheit ein Schluß auf die Kontinuität der Reichspolitik in 
dieser für die Gesamtrichtung der Politik grundlegenden Frage gezogen 
werden kann. 
Selbstverständlich bedarf die Regierung für ihre gesetzgeberischen Maß- 
regeln einer Mehrheit im Reichstag. Dies ist eine Konsequenz des konsti- 
tutionellen Systems und insbesondere des Art. 5 R.V. Wird diese Mehr- 
heit nicht von einer Partei gebildet, so muß die Regierung sich auf ver- 
schiedene Parteien stützen, ein Fall, der in Deutschland seit langer Zeit 
eingetreten ist und voraussichtlich noch lange Zeit bestehen wird, weil die 
politischen Parteien in Deutschland weniger nach nationalen als nach wirt- 
schaftlichen Gesichtspunkten gruppiert find, und da die wirtschaftlichen 
Interessen nun einmal für die verschiedenen Berufsstände verschieden find, 
so liegt darin ein innerer Grund für die Divergenz der politischen Richtung 
der Parteien, der sich sobald nicht wird überwinden lassen. Von den Führern 
der Reichspolitik ist daraus der Schluß gezogen worden, daß die Regierung 
mit keiner Partei innerlich ganz einig sein kann, von keiner ganz abhängen 
darf und daß, wenn die Kursschwankung vermieden werden soll, die sich 
ergeben müßte, wenn die Regierung bald der einen und bald der anderen 
Richtung Rechnung tragen wollte, nur übrig bleibt und aus innerster Not- 
wendigkeit hervorgeht die Politik, die unter dem Schlagwort „mittlere 
Linie“ oder „Diagonale der Kräfte“ bekannt geworden und als solche 
schon vom Fürsten Bismarck bezeichnet worden ist. Aus der sich dann 
bietenden Möglichkeit, wenigstens von Fall zu Fall mit der Reichstags- 
mehrheit zu einer Verständigung zu gelangen, ergibt sich die verfassungs- 
mäßige Lösung (Art. 5 R.V.) für die politische Verantwortlichkeit des 
Reichskanzlers; vgl. die Ausführungen des Reichskanzlers v. Bethmann 
Hollweg in der Reichstagssitzung v. 9. Dez. 1909.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.