390 IV. Präsidium. Art. 19.
nehmen, daß ehe es soweit kommt, die zahllosen politischen Beziehungen,
die alle Bundesstaaten untereinander verbinden, stark genug auf den wider-
strebenden Staat einwirken und die verantwortlichen Staatsmänner eher
zum Rücktritt nötigen werden, als das letzte Mittel angewendet werden
muß. Daß in Angelegenheiten, die zu den Lebensfragen der Bundesstaaten
gehören, die Politik des Reichs ohne Zustimmung Preußens und der anderen
größeren Bundesstaaten geführt werden wird, ist nach der Einrichtung des
Bundesrats und des Reichstags fast ausgeschlossen. Die verantwortlichen
Regierungen der kleineren Staaten aber werden, selbst wenn sie in der einen
oder anderen Frage ihre Interessen benachteiligt fühlen, sich damit begnügen,
für ihr Land alles getan zu haben, was in ihrem Vermögen stand, und
werden schließlich den realen Machtverhältnissen Rechnung tragen, um nicht
durch nutzlosen Widerstand die Anwendung äußeren Zwanges hervorzurufen.
II. Die Nichterfüllung verfassungsmäßiger Bundespflichten.
Die Voraussetzung für die Exekution ist, daß „verfassungsmäßige Bundes-
pflichten nicht erfüllt werden"“. Die Bundespflicht besteht für die Bundes-
glieder darin, daß sie alle von den Reichsorganen im Rahmen ihrer Zu-
ständigkeit getroffenen Anordnungen ausführen. Diese Pflicht bezieht sich
also ebenso auf das große Gebiet, das vom Reich gesetzlich geregelt, aber
den Einzelstaaten zur eigenen Verwaltung überlassen ist, wie auf diejenigen
Angelegenheiten, die in das Gebiet der eigenen und unmittelbaren Ver-
waltung des Reichs fallen. Bezüglich der letzteren Angelegenheiten sind
die Landesregierungen dafür verantwortlich, daß nicht bei ihnen rechts-
widrig ein Zustand entsteht, der dem Reich die geordnete Verwaltung un-
möglich macht.
Der Pflichtenkreis der Einzelstaaten, der durch Art. 19 betroffen wird,
erstreckt fich ferner nicht nur auf die unmittelbar durch die Reichsverfassung
gegebenen Vorschriften, sondern auf das ganze Gebiet der Reichsgesetzgebung
einschließlich der gültigen Verordnungen, mögen sie vom Kaiser, vom Bundes-
rat oder vom Reichskanzler ausgegangen sein, weil die Kompetenz der
Reichsorgane zu allen für das Reich getroffenen Anordnungen auf der Reichs-
verfassung beruht.
Die Verletzung dieser Anordnungen kann ebensowohl durch Handlungen
wie durch Unterlassungen, durch Maßregeln der Gesetzgebung wie durch
solche der Verwaltung hervorgerufen sein; ebenso Schilling Arch. f.öff. R.
Bd. 20 S. 62 f., v. Rönne 1 S. 71.
III. Die Exekution ist gegen den Staat als solchen gerichtet.
Nach der Struktur der Reichsverfassung ist den Einzelstaaten die Gebiets-
hoheit geblieben, d. h. soweit ihre eigene Verwaltungsbefugnis reicht, sind
ihre Staatsangehörigen nur ihrer eigenen Regierungsgewalt unterworfen,
während die Regierungen ihrerseits dem Reiche für die richtige Ausführung
der Reichsgesetze verantwortlich find. Infolgedessen richtet sich die Exekution
gegebenenfalls nicht gegen die Untertanen der Einzelstaaten unmittelbar,
sondern gegen die Regierungen, die genötigt werden sollen, das Reichsrecht
und ihr Landesrecht so anzuwenden, daß der dem geltenden Reichsrecht ent-