Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

V. Reichstag. Art. 20. 401 
den Einzelstaaten, sondern trägt nur der Tatsache Rechnung, daß das Reich 
ein konstitutionelles Staatswesen ist, ebenso wie die Einzelstaaten selbst, 
und nichts lag daher näher als für diesen Teil der Verfassung denjenigen 
Rechtszustand zu übernehmen, der in dem größten Bundesstaat, in Preußen, 
bereits eingeführt war und demgegenüber jede Abweichung ein durch 
zwingende Notwendigkeit nicht erfordertes Experiment dargestellt hätte. Nur 
mit dem Art. 20 ist eine Ausnahme gemacht worden; das Wahlrecht allein 
ist nicht aus der preußischen Verfassungsurkunde übernommen worden. 
Hierfür waren eine Reihe von Momenten maßgebend, von denen zunächst 
zu erörtern find die Bedenken, die damals gegen das preußische Dreiklassen- 
system bestanden. Fürst Bismarck begleitete die Vorlage des allgemeinen 
Wahlrechts in der Reichstagssitzung v. 28. März 1867 St. B. 429 mit 
einer scharfen Kritik des preußischen Wahlsystems, in der er namentlich auf 
die schroffen Gegensätze hinwies, die der Dreiklassen-Zensus in der Wahl- 
berechtigung selbst bei Personen mit annähernd gleichartigem Vermögen her- 
vorruft, und auf die Verschiedenartigkeit seiner Wirkung, je nachdem es 
sich um Wahlbezirke mit mehr oder weniger wohlhabender Bevölkerung 
handelt. Um die AÄußerung des Fürsten Bismarck richtig zu würdigen, muß 
man in Betracht ziehen, daß das allgemeine Wahlrecht im Reichstag hart 
bekämpft wurde, während Fürst Bismarck aus später noch zu erörternden 
politischen Gründen sich stark dafür engagiert hatte, und daß Fürst Bis- 
marck, weil er viel beweisen wollte, zu starken Ausdrücken der Verurteilung 
des preußischen Wahlsystems gegriffen hat. Seinen Zahlenbeispielen über 
die krassen Wirkungen geringer Steuerdifferenzen in den Fällen, wo die 
höhere Wahlklasse abschließt und die niedere Klasse anfängt, steht der 
Einwand entgegen, daß überall, wo in der Gesetzgebung bestimmte Zahlen- 
grenzen angewendet werden, sich daraus für die unmittelbar diesseits und 
jenseits der Grenze liegenden Fälle Ungleichheiten ergeben, die der sachlichen 
Verschiedenheit der Fälle nicht entsprechen und eine sachlich nicht gerecht- 
fertigte Unterscheidung nahezu gleichartiger Fälle hervorrufen. Beispielsweise 
bringt die Tatsache, daß die Volljährigkeit mit höchst weittragenden recht- 
lichen Wirkungen auf einen bestimmten Zeitpunkt, die Vollendung des 
21. Lebensjahres gesetzt ist, es mit sich, daß von einer Stunde zur anderen 
die volle Geschäftsfähigkeit eintritt, daß derjenige, dem ein Tag zur Voll- 
jährigkeit fehlt, in seiner juristischen Handlungsfähigkeit nicht weiter steht 
als ein 7 Jahre altes Kind, umgekehrt, wer diesen Tag erreicht hat, als 
Volljähriger rechtlich so behandelt wird, wie ein in geistiger Vollreife be- 
findlicher Mann, während für den Fortschritt der geistigen Entwicklung natür- 
lich von einem einzelnen Tage kein bemerkenswerter Sprung erwartet werden 
kann. Ahnlich liegt es im Strafrecht, wo das 12. und 18. Lebensjahr für 
die Bemessung der Zurechnungsfähigkeit und infolgedessen auch für die Straf- 
zumessung eine Rolle spielt, die für die an der Grenze liegenden Fälle leicht 
zu Unbilligkeiten führen kann. Auch das Reichstagswahlrecht selbst mit 
seiner für die Wahlfähigkeit gezogenen Grenze von 25 Jahren könnte als 
Beispiel angeführt werden. Auf die Fixierung solcher bestimmter Grenzen 
kann aber in sehr vielen Fällen nicht verzichtet werden, und es muß des- 
halb bei dem Dreiklassen-Wahlsystem als eine unvermeidliche Folge hin- 
genommen werden, wenn ein Plus oder Minus von wenigen Groschen der 
Steuer in den Grenzfällen ausreicht, um für die Zugehörigkeit zu der einen 
Dambitsch, Deutsche Reichsverfassung. 26
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.