V. Reichstag. Art. 20. 407
die Abstimmung in den Parlamenten anbetrifft, so ist es freilich eine fast
normale Erscheinung, daß die Parteien, die einmal in der Minorität find,
auch in der Minorität bleiben, bis es zu einer tiefgreifenden Veränderung
der politischen Konstellation kommt. In Deutschland ist dies übrigens
nicht so scharf ausgeprägt, als in den rein parlamentarisch regierten Ländern,
in denen Regierungsvorlagen, die der Stimmung der Parlamentsmehrheit
nicht Rechnung tragen, zu den Ausnahmefällen gehören. Doch find dies
Unvollkommenheiten, die bei der direkten Wahl ebenso wirksam sind wie
bei der indirekten.
Fürst Bismarck hat in der vorerwähnten Rede ferner ausgeführt, daß
die direkte Wahl mehr als die indirekte geeignet sei, bedeutende Kapazitäten
in das Parlament zu führen, weil das Ansehen des Kandidaten, der bei der
direkten Wahl durchdringen will, sich auf weitere Volkskreise erstrecken müsse.
Jetzt entspricht dies wohl kaum mehr den realpolitischen Verhältnissen.
Die Einigung auf eine bestimmte Persönlichkeit als Abgeordneten wird in
den seltensten Fällen noch einem übereinstimmenden Initiativ-Entschluß der
Wählerschaft entspringen, weder bei der direkten noch bei der indirekten
Wahl, sondern es find wohl überall für die Zwecke der Wahl gebildete
Organisationen vorhanden, lokale Komitees, die, mögen sie von einer Zentral-
stelle mehr oder weniger abhängig oder auch unabhängig sein, die Kandidaten.
für die Landtagswahl ebenso nominieren wie für die Reichstagswahl, sodaß
in dieser Beziehung ein Unterschied zwischen dem direkten und indirekten
Wahlsystem nicht besteht.
e) Die Bedenken gegen die geheime Stimmenabgabe.
Die preußische Regierung ist bei der Vorlegung des Verfassungs-
entwurfs mit aller Energie für das allgemeine und direkte Wahlrecht ein-
getreten, aber sie hat nicht die geheime Abstimmung befürwortet. Die letztere
kam erst auf Grund eines Antrags des Abg. Fries in den Art. 20. Fürst
Bismarck war ein Gegner der geheimen Abstimmung und ist es stets ge-
blieben; vgl. seine „Gedanken und Erinnerungen Kap. 21 lIII, wo er besonders
darauf hinweist, daß die geheime Stimmenabgabe, indem sie die im prak-
tischen Leben vorhandenen Abhängigkeiten und Einflüsse aufhebt, die retar-
dierende Wirksamkeit der gebildeten und besitzenden Klassen zurückhält, die
gegenüber dem sich überstürzenden Reformendrang der Führer der breiten
Massen im Interesse einer ruhigen Entwicklung des Staatsganzen und damit
der großen Volksmassen selbst notwendig ist. Mit dieser Abneigung gegen
die geheime Form des allgemeinen Wahlrechts ist Fürst Bismarck nicht
vereinzelt. Fürst Bülow hat in der Reichstagssitzung v. 26. März 1908
St. B. 4289D von namhaften Politikern, die Anhänger des allgemeinen
Wahlrechts, aber Gegner der geheimen Abstimmung waren, genannt: Dahl-
mann, Gneist, Beseler, Waitz, Pfister, Mohl, Schäffele und Windthorst,
also Männer der verschiedensten Parteirichtung. Von Ausländern wäre
namentlich John Stuart Mill zu erwähnen.
Andererseits ist die geheime Abstimmung geltendes Recht, und in Aus-
führung der Reichsverfassung, für deren genaue Beobachtung die Reichs-
verwaltung wie die Verbündeten Regierungen verantwortlich sind, wurden
deshalb Vorkehrungen getroffen, als sich bei Wahlprüfungen wiederholt
herausgestellt hatte, daß die Formen der geheimen Abstimmung nicht mehr