Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

408 V. Reichstag. Art. 20. 
genügend gewahrt wurden. Zu diesem Zweck ist mit der nach dem Wahl- 
gesetz erforderlichen Zustimmung des Reichstags das neue Wahlreglement 
v. 28. April 1903 R.G.Bl. S. 202 erlassen worden; vgl. oben S. 400. 
Dabei ist übrigens zu berücksichtigen, daß ungeachtet aller Bedenken, die 
gegen die geheime Abstimmung der Reichstagswahl besteheu, doch auch hier 
die Verhältnisse in den Einzelstaaten nicht völlig gleich wie im Reiche 
liegen, weil durch die moderne wirtschaftliche Entwicklung Abhängigkeits- 
verhältnisse entstanden sind, mit denen früher wohl noch nicht in gleichem 
Maße gerechnet zu werden brauchte, wie es jetzt geschehen muß und für die 
es charakteristisch ist, daß sie bei dem gleichen Stimmrecht der Reichstags- 
wahl praktisch viel stärker ins Gewicht fallen würden, als bei dem schon 
den Abhängigen an sich ein geringeres Stimmrecht anweisenden Dreiklassen- 
System. Andererseits find aber jetzt auch Abhängigkeitsverhältnisse hervor- 
getreten, denen man nicht nachrühmen kann, daß sie der höheren Bildung 
und besseren politischen Reife ein größeres Maß von Einfluß verbürgen; 
eine Abhängigkeit würde sich bei der öffentlichen Reichstagswahl wohl auch 
nach unten geltend machen. Die Undurchsichtigkeit aller dieser Verhältnisse 
spricht für die Aufrechterhaltung des slatus duo ante, von dem man zwar 
nicht sagen kann, daß er sich bewährt hat, der aber doch nur gegen un- 
bekannte Nachteile ausgetauscht werden könnte und auf dessen Gefahren und 
Schwierigkeiten sich die Nation in vierzigjähriger Praxis schon einiger- 
maßen eingerichtet hat. 
f) Das Ergebnis. 
Prüft man die Gründe, die für die Einführung des Reichstagswahl- 
rechts maßgebend waren, jetzt an der Hand der durch vier Jahrzehnte 
gewonnenen Erfahrungen, so ist festzustellen, daß das allgemeine Wahlrecht 
in vielen Beziehungen die Erwartungen, die darauf gesetzt wurden, nicht 
erfüllt hat, aber es ist geltendes Recht geworden, nicht nur in dem Sinne 
wie irgend eine andere positive Bestimmung der Reichsgesetzgebung, die jeder- 
zeit geändert werden kann, sondern es ist, je länger desto mehr eine Grund- 
lage des ganzen politischen Lebens geworden, die nicht mehr ohne schwere 
Erschütterung des Verfassungsbaus, auf dem das Reich beruht, beseitigt 
werden könnte. 
Fürst Bismarck hat übrigens nie behauptet, daß mit dem allgemeinen 
Wahlrecht eine vollkommene Einrichtung geschaffen werde. Er hat nur die 
Relativität seiner Vorzüge anerkannt und es von Anfang an faute de mieux 
behandelt; vgl. seine Bemerkung in der Reichstagsrede v. 28. März 1867 
St. B. 429: 
„ . Ich kann nur sagen: ich kenne wenigstens kein befseres Wahl- 
gesetz. Es hat ja gewiß eine große Anzahl von Mängeln, die machen, 
daß auch dieses Wahlgesetz die wirklich besonnene und berechtigte Meinung 
eines Volkes nicht vollständig photographiert und en Miniature widergibt 
und die Verbündeten Regierungen hängen an diesem Wahlgesetz nicht in 
dem Maße, daß sie nicht jedes andere akzeptieren sollten, dessen Vorzüge 
vor diesen ihnen nachgewiesen werden. Ich halte die Frage für 
offen, bis mir jemand überzeugend dartut, daß ein anderes Wahlgesetz 
besser und freier von Mängeln als das im Entwurf vorgelegte und 
im Teftbe besonderer Vorzüge, die dieses nicht hat; die Frage ist dis- 
utierbar."“ "
	        
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