V. Reichstag. Art. 20. 409
Derselbe Gedanke kehrt in den Ausführungen des preußischen Bundes-
kommissars Staatsministers Graf zu Eulenburg wieder; Reichstagssitzung v.
15. April 1867 St. B. 708.
Man darf aber jetzt annehmen, daß die damalige preußische Staats-
regierung sich doch in mehr als einer Hinsicht über die Wirkung des all-
gemeinen Wahlrechts getäuscht hat. Einmal hatte Fürst Bismarck darauf
gerechnet, daß gerade aus den breiten Volksschichten Vertreter in das Par-
lament gesandt werden würden, die in nationalen Fragen unter allen Um-
ständen die Regierung unterstützen würden, eine Erwartung, die sich teilweise
als unrichtig herausgestellt hat; vgl. Rofin, Grundzüge S. 69 und Staats-
sekretär des Innern Graf Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v.
7. Febr. 1906 St. B. 1088.
Ein anderer Punkt, in welchem das allgemeine Wahlrecht Wirkungen
hervorgebracht hat, die bei seiner Einführung wahrscheinlich nicht voraus-
gesehen worden find, liegt in den bedenklichen Formen, welche die Wahl-
agitation gerade unter der Einwirkung des allgemeinen Wahlrechts an-
genommen und die zweifellos schon dazu geführt hat, daß viele an sich für
die Volksvertretung geeignete Kräfte sich zurückgezogen haben, weil sie den
Wahlkampf scheuen. Die Agitation wird immer leidenschaftlicher, der Partei-
standpunkt wird immer schärfer betont, der Wahlkampf läßt sehr oft die
Objektivität vermissen, wendet sich gegen die Person des Gegners und im
übrigen ist es der unter der Herrschaft des allgemeinen Wahlrechts ent-
standenen Wahlagitation charakteristisch, daß den breiten Massen, den Kreisen,
von denen am meisten erwartet wird, daß sie über eine große, geschlossene
Stimmenzahl verfügen, Versprechungen gemacht werden, deren Erfüllung von
vornherein ausgeschlossen ist und die nur den Erfolg einer fortdauernden
Steigerung der Begehrlichkeit haben; die Bearbeitung der Massen, wie fie
die moderne Wahlagitation mit sich bringt, fällt in das Gebiet der groben
Effekte und grobe Effekte erfordern grobe Mittel.
Ein weiterer Punkt, in welchem man sich wohl früher unrichtigen Er-
wartungen hingegeben hat, besteht in der Wirkung des allgemeinen Wahlrechts
auf die Parteibildung. Fürst Bismarck vertrat in seiner Reichstagsrede
v. 28. März 1867 St. B. 429, unter Hinweis auf eine in derselben Sitzung
getane Außerung des Abg. Wagner gleichen Inhalts, den Standpunkt, daß
die Entwicklung der politischen Parteien weniger von dem geltenden Wahl-
recht als von den gerade die Zeitepoche beherrschenden geistigen und politischen
Einflüssen abhänge. Dies konnte i. J. 1867 noch für richtig gelten und es
gilt für eine große Anzahl von Wahlbezirken auch jetzt noch, in denen in
der Tat die Reichstagswahl ungefähr zu demselben Resultat führt wie die
Landtagswahl und nach beiden Systemen Männer von etwa gleicher politischer
Richtung gewählt werden. Aber zum großen Teil und insbesondere in den
großen Städten und sonstigen Industriebezirken liegt es doch anders. Dort
hat die Reichstagswahl ein von der Landtagswahl wesentlich verschiedenes
Ergebnis und die Entwicklung der radikalen Parteien im Reichstage kann
selbstverständlich nur auf die Rechnung des allgemeinen Wahlrechts gesetzt
werden. Es unterliegt deshalb keinem Zweifel, daß die Übertragung des
Reichstagswahlrechts auf das preußische Abgeordnetenhaus — die nach
bestimmter Erklärung der preußischen Regierung ausgeschlossen ist, aber von
manchen Kreisen erstrebt wird — zunächst und vielleicht auch in späterer