410 V. Reichstag. Art. W.
Folge kein anderes Ergebnis haben würde, als daß in den großen Städten
und in den sonstigen Bezirken, in denen sich eine Verschiedenartigkeit der
Wirkung der beiden Wahlsysteme geltend macht, an Stelle der Männer, die
jetzt gewählt werden, Vertreter der radikalen Parteien in das Abgeordneten-
haus gewählt werden würden, mit anderen Worten, die bürgerliche Gesellschaft,
die in den großen Städten durch die liberalen Parteien repräsentiert wird,
würde ihren Einfluß zu Gunsten der radikalen Parteien verlieren. Die Tat-
sache, daß der Einfluß der bürgerlichen Gesellschaft auf die Gesetzgebung, der
für den Fortschritt der Kultur dauernd nicht entbehrt werden kann, schon
durch eine gleiche Verteilung der Wahlstimmen ernstlich bedroht ist, hat etwas
Niederdrückendes; es liegt hier vielleicht sogar das schwerste soziale Problem
der Gegenwart zugrunde. Aber diese Erscheinung braucht nicht notwendig
von Dauer zu sein; vgl. die Ausführungen des Staatssekretärs des Innern
Graf Posadowsky-Wehner in der Reichstagssitzung v. 12. Dez. 1905, der
sich dort über die Ursachen und die Wege zur Lösung dieses Problems
ausgesprochen hat.
Im übrigen kann man die Vorteile und Nachteile der verschiedenen
Wahlsysteme und ihre Beziehungen zu den sozialen Fragen der Gegenwart
abwägen, aber das eine oder andere System als absolut gut oder schlecht
zu bezeichnen, würde nichts anderes als ein politisches Dogma sein. Ein
solches Resultat würde stets schon unter dem Gesichtspunkt einem Angriff
unterliegen, daß die für das Wahlrecht maßgebenden wirtschaftlichen und
sozialen Verhältnisse und die Aufgaben der verschiedenen Parlamente nicht
immer dieselben sind. Für das Reich einerseits und die Einzelstaaten an-
dererseits spielt z. B. der letztere Faktor, die Verschiedenartigkeit der Aufgaben
der Parlamente eine Rolle und nötigt zu einer verschiedenen Beurteilung
der Wahlrechtsfrage. Überall aber, und auch bei einem Systemwechsel, wird
sich zwischen den berechtigten Ansprüchen, die an die Konstruktion der Volks-
vertretung gestellt werden können, und dem, was für den Staat erreichbar
ist, nach menschlicher Voraussicht ein starker Abstand zeigen. Dem Programm
der Verbündeten Regierungen für das Reich und dem der preußischen Staats-
regierung für Preußen entspricht es, daß der status quo ante im Prinzip
aufrecht erhalten wird, ein Prinzip, dem zeitgemäße Reformen natürlich nicht
widersprechen; so hat die preußische Regierung neuerdings eine Reform des
Dreiklassen-Systems in Aussicht gestellt; vgl. die programmatische Erklärung
des Reichskanzlers Fürst Bülow in der Sitzung des Abgeordnetenhauses v.
10. Jan. 1908, ergänzt durch die Erklärung des Reichskanzlers in der Reichs-
tagssitzung v. 26. März 1908 St. B 42880D, aus der hervorgeht, daß die
Reichsverwaltung in Übereinstimmung mit der preußischen Regierung das
Reichstagswahlrecht zwar für das Reich als geltendes Recht und als Grund-
lage der Verfassung anerkannt, aber nicht unter Gesichtspunkten schützt, die
seine übernahme in die preußische Verfassung rechtfertigen könnten.
IV. Die Ausführung des Art. 20 durch das Wahlgesetz.
Das im Art. 20 kundgegebene allgemeine Prinzip des Wahlrechts hat
seine nähere Ausführung durch das Wahlgesetz für den Reichstag des Nord-
deutschen Bundes erhalten, das in den Süddeutschen Staaten auf Grund
der Bündnisverträge, in Elsaß-Lothringen auf Grund des § 6 des Reichsges.