420 V. Reichstag. Art. 22.
nur um einen redaktionellen Fehler. Denn im Abs. 1 ist die Offentlichkeit der
Reichstagsfitzungen vorbehaltlos vorgeschrieben und demgegenüber ist ein
Rückschluß von dem im Abs. 2 enthaltenen Ausdruck mittels eines argumen-
tum e contrario unzulässig. Die Fassung des Abs. 2 ist dem § 38 des
preuß. Preßgesetzes v. 12. Mai 1851 entnommen; sie war dort am Platze,
weil die preuß. Verfassung nichtöffentliche Sitzungen kennt; nur hat man
bei der übertragung auf Art. 22 Abs. 2 Übersehen, daß Abs. 1 die Offent-
lichkeit für alle Fälle vorschreibt. Unwesenlich ist es, daß § 12 St. G.B. die
Beschränkung auf öffentliche Sitzungen im Gegensatz zum preuß. Preßgesetz
nicht mehr enthält. Auch dies findet seine Erklärung in dem Umstande,
daß die Verfassungen der Einzelstaaten mindestens zum Teil geheime Sitzungen
zulassen und man auch für die letzteren die Unverantwortlichkeit wahrheits-
getreuer Berichte bestimmen wollte.
Allerdings ist davon auszugehen, daß die vorbehaltlose Festsetzung der
Offentlichkeit und die Nichtzulassung der geheimen Sitzungen auf einem Ver-
sehen der gesetzgebenden Faktoren beruht. Denn wie die im unmittelbaren
Anschluß an den Erlaß der Verfassung festgestellte Geschäftsordnung des
Reichstags ergibt, ist das Bedürfnis in Ausnahmefällen geheime Sitzungen
abzuhalten von Anfang an empfunden worden. Silcherlich hätten die Ver-
bündeten Regierungen der Aufnahme einer dem § 36 der G.O. entsprechen-
den Verfassungsbestimmung keine Schwierigkeiten bereitet, und es ist wahr-
scheinlich, daß die Unterlassung dieser Bestimmung im Wege der Geschäfts-
ordnung durch die Aufnahme der fraglichen Vorschrift unschädlich gemacht
werden sollte. Jedoch reicht die dem Reichstag durch Art. 27 verliehene
Kompetenz nicht soweit, um eine positive Verfassungsvorschrift von exklusivem
Charakter wie die des Art. 22 Abs. 1 zu modifizieren, wenngleich an und
für sich die Regelung der Offentlichkeit der Beratungen nicht außerhalb
des Kreises der Geschäftsordnung liegt. Für die Gültigkeit des § 36 ist
v. Rönne 1 S. 282, Meyer S. 453 A. 24, dagegen u. a. Laband I S. 321,
v. Seydel S. 198, Zorn I S. 244, Arndt S. 137, Müller-Meiningen
in Hirth's Annalen 1900 S. 567 f., Perels im Arch. f.öff. Recht Bd. 15
S. 548 ff., Fleischmann in D. Jur. Zeit. 1900 S. 158. Im Hinblick auf die
Ausführungen des letzteren, daß die Bestimmung des § 36 dem Geist der
Verfassung widerspreche, ist allerdings zu bemerken, daß im § 36 ein durch-
aus praktisches und der konstitutionellen Idee in keiner Weise schädliches Zu-
geständnis an Ausnahmefälle liegt, die vorkommen können und vorgekommen
sind, Fälle, in denen eine öffentliche Sitzung „eine Gefährdung der öffent-
lichen Ordnung, insbesondere der Staatssicherheit oder eine Gefährdung der
Sittlichkeit“ besorgen läßt. Dies sind nämlich die Umstände, bei deren
Vorhandensein nach 8 173 G. V. G. auch von dem Grundsatz der Offentlichkeit
der Gerichtsverhandlungen eine Ausnahme gemacht wird. Aber die aus-
nahmslose Offentlichkeit der Plenarsitzungen des Reichstags beruht auf einer
so klaren und zwingenden Vorschrift der Reichsverfassung, daß alle Er-
wägungen der Opportunität zurücktreten müssen.
IV. Die Folgen eines Verstoßes gegen die Offentlichkeit.
Die Unzulässigkeit geheimer Sitzungen des Reichstags hindert nicht,
daß die Mitglieder des Reichstags sich zu einer geheimen Besprechung ver-