Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

426 V. Reichstag. Art. 23. 
Literatur nahezu allseitig anerkannt, daß damit der Initiative des Reichs- 
tags auch dasjenige Gebiet vorbehalten ist, auf dem eine Ausdehnung der 
gegenwärtigen Kömpetenz des Reichs möglich ist, weil nach Art. 78 R.V. 
das Reich im Wege der Gesetzgebung seine Kompetenz erweitern kann. 
Dies nehmen u. a. an: Laband II S. 23, Zorn 1 S. 409, Arndt S. 146, 
v. Rönne 1 S. 265 ff., Hänel Studien 1 S. 256, v. Seydel S. 202, Meyer 
S. 584 A. 11. Der Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht geht, ab- 
gesehen von dem Wortlaut des Verfassungstextes, der sich aus der Verbindung 
von Art. 23 und 78 ergibt, aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften. 
hervor; vgl. die Ausführungen der Abg. Migquel und Lasker in den Reichs- 
tagssitzungen v. 21. u. 26. März 1867 St.B. 317 und 352; insbesondere 
der letztere machte zur Begründung seines Amendements, auf das die 
Fassung des Art. 78 zurückzuführen ist, geltend, daß, um der an sich mög- 
lichen einschränkenden Auslegung des Art. 23 vorzubeugen, für Verfassungs- 
änderungen der Weg der Gesetzgebung und damit dem Reichstag die Initiative 
eröffnet werden sollte. Die Ansicht, daß der Reichstag bei Verfassungs- 
änderungen, zu denen er die Initiative ergreift, erst ein die Verfassung 
ausdrücklich änderndes Gesetz vorschlagen müsse, bevor für die eigentlich 
beabsichtigte Reform die Möglichkeit zu einem Initiativantrag gegeben sei, 
entbehrt danach der Unterlage; es wäre übrigens ein zweckloser Umweg; 
vgl. Laband 11 S. 23. Andererseits geht es zu weit, wenn man die 
Worte „innerhalb der Kompetenz des Reichs“ als vollkommen bedeutungs- 
los ansieht; so Zorn 1 S. 409 A. 7, Hänel Studien I S. 256; vgl. auch 
Laband II S. 23. Die aus Art. 78 hervorgehende Befugnis des Reichs 
zur Ausdehnung seiner Kompetenz ist nicht unbeschränkt. Die staatliche 
Integrität der zum Reiche verbundenen Einzelstaaten, d. h. die Erhaltung 
der Staaten als solcher, der Grundsatz ihrer Gleichberechtigung und Gleich- 
verpflichtung, die Vereinigung der Souveräne, die mit ihren Staaten das 
Reich gebildet haben, find Rechtssätze, die, wie in dem Eingang der R.V. 
zum Ausdruck kommt, der Disposition der Reichsgesetzgebung entzogen sind 
und sich auch ohne verfassungsmäßigen Ausdruck aus der staatsrechtlichen 
Natur des Reichs ergeben; vgl. Eingang II S. 12 ff. Die Kompetenz des 
Reichs erstreckt sich nicht darauf, daß es den Boden, auf dem es steht, sich 
selbst fortziehen, sich durch Veränderung seiner Grundlagen einen neuen 
Charakter geben könnte, und folglich ist auch der Reichstag nicht berechtigt, 
zu Reichsgesetzen, die dieses Ziel haben, die Initiative zu ergreifen. Für 
die Initiative des Bundesrats besteht zwar dieselbe Schranke, da Reichs- 
gesetze dieser Art durch die Verfassung überhaupt ausgeschlossen sind, aber 
für den Bundesrat ist nicht wie für den Reichstag ein besonderes Verbot 
erlassen, wohl deshalb, weil man mit dem Fall, daß der Bundesrat über 
die verfassungsmäßige Möglichkeit hinaus zentralistische Tendenzen verfolgen 
könnte, nicht gerechnet hat, da der Bundesrat in sich die Garantien bietet, 
die man dem Reichstag gegenüber durch die Klausel des Art. 23 schaffen 
wollte. 
Allerdings sind formell, d. h. wenn man nur den Wortlaut des Art. 78 
in Betracht zieht, die Grenzen für die Initiativtätigkeit des Reichstags wie 
für die Zulässigkeit von Kompetenzerweiterungen des Reichs sehr weit ge- 
zogen, soweit, daß eine nur auf den Wortlaut des Art. 78 sich stützende 
Auslegung der politischen Seite des Verhältnisses nicht gerecht werden
	        
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