V. Reichstag. Art. 23. 427
würde. Denn ohne daß es in der Verfassung positiv zum Ausdruck ge-
kommen ist, waren bei der Gründung des Reichs alle in Betracht kommenden
Faktoren darüber einig, daß die Kompetenzerweiterung des Reichs trotz der
Klausel des Art. 78 nicht ungemessen gesteigert werden darf. Es gibt eine
ganze Anzahl von Staatsaufgaben: die innere Verfassung und allgemeine Ver-
waltung der Einzelstaaten, Kirche, Schule u. a., in Ansehung deren die Aus-
dehnung der Reichskompetenz zu einer derartigen Verminderung des Wirkungs-
kreises der Einzelstaaten führen würde, daß damit die Voraussetzungen, die
für die Gründung des Reichs bestanden, überhaupt verloren gingen. Initiativ-
anträge, die sich auf diese den Einzelstaaten definitiv vorbehaltenen Aufgaben
erstrecken, würden daher, wenn auch nicht formell, so doch materiell, dem
Art. 23 R.V. zuwiderlaufen, weil fie einem Gebiet angehören, für das eine
Ausdehnung der Reichskompetenz nicht in Frage kommen kann. Unter diesen
Gesichtspunkten hat sich z. B. in der Reichstagssitzung v. 24. Jan. 1905
St. B. 40190 der Abg. Spahn gegen die Zulässigkeit eines Initiativantrages
erklärt, der bezweckte, daß im Wege der Reichsgesetzgebung in die inneren
Verfassungsverhältnisse der Großherzogtümer Mecklenburg eingegriffen werden
sollte. Auch der Staatssekretär des Innern Graf Posadowsky-Wehner
St. B. 4020 C verwahrte sich damals gegen Initiativanträge des Reichstags,
die eine ungemessene Kompetenzerweiterung des Reichs zum Gegenstande
haben, unter Berufung auf den Wortlaut des Art. 23. Der Staatssekretär
vertrat die Ansicht, daß die Kompetenz des Reichs — im Sinne des Art. 23 —
auf den bestehenden Vorschriften der Reichsverfassung beruhe. Dies ist
insofern richtig, als die bestehende Reichsverfassung Erweiterungen der Kom-
petenz des Reichs nicht ausschließt, jedoch gilt es nur in den angedeuteten
Grenzen im Hinblick auf den Geist der Verfassung und ihre Entstehungs-
geschichte, deren springender Punkt der Zusammenschluß selbständiger Staaten
ist, die ihre staatliche Existenz niemals aufgeben wollten; vgl. auch Art. 78 I.
Obwohl der Bundesrat stets in der Lage ist, die Initiativanträge, die
über das zulässige Maß einer Kompetenzerweiterung hinausgehen, abzulehnen,
ist die Frage doch nicht ohne praktische Bedeutung. Der Reichstag würde
verfassungswidrig handeln, wenn er Dinge, die nach der Verfassung nicht
diskutabel find, zum Gegenstand von Initiativanträgen machen und damit
für sie die öffentliche Meinung engagieren wollte. Er kann zwar, wenn
man von dem nur für die extremsten Fälle in Betracht kommenden Mittel
der Auflösung abfieht, von den anderen Organen des Reichs — Bundesrat
und Reichsverwaltung — nicht gehindert werden, seine Zeit und Kraft an
Aufgaben zu verlieren, die nicht in seine Kompetenz fallen, aber er trägt
dann das Odium, daß er seinerseits ein Gebot der Verfassung verletzt, und
der Bundesrat ist in die Lage gebracht, solche Initiativanträge schon aus
formalen Gründen abzulehnen.
III. Die Stellung der Verbündeten Regierungen
zu den Initiativanträgen des Reichstags.
Dem Reichstag stehen zwei verschiedene Wege offen, seine Initiative
zu betätigen: entweder kann er durch eine auf Mehrheitsbeschluß beruhende
Resolution die Verbündeten Regierungen ersuchen, über einen bestimmten
Gegenstand einen Gesetzentwurf vorzulegen, dann geht nur die Anregung,