Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

428 V. Reichstag. Art. 23. 
die Generalidee zu der Vorlage vom Reichstage aus und die Ausarbeitung 
wird von den Verbündeten Regierungen besorgt — oder der Reichstag arbeitet 
das Gesetz selbst aus, bez. bringt wenigstens die Absicht dies zu tun durch 
seinen Initiativbeschluß zum Ausdruck. Dann entspricht es der Geschäfts- 
ökonomie, an der alle in Betracht kommenden Faktoren ohne Rücksicht auf 
die Verschiedenheit ihrer politischen Ziele interessiert find, daß die Ver- 
bündeten Regierungen ihrerseits die Vorlage nicht ausarbeiten, sondern dem 
Reichstag dieses Geschäft überlassen, da er es übernehmen will, und die 
gleichzeitige Arbeit des Bundesrats auf demselben Gebiete seine Aktion 
stören könnte; vgl. die Ausführungen des Staatssekretärs des Reichs-Justiz- 
amts Nieberding in der Reichstagsfitzung v. 12. Febr. 1902 St.B. 4125 C. 
Eine Ausnahme muß natürlich für die Fälle gelten, in denen die Ver- 
bündeten Regierungen im Interesse des Reichs auf eine möglichst schleunige 
Erledigung des Gesetzes zu dringen genötigt find. Meistens werden fie in 
solchen Fällen die Vorlage selbst einbringen und es auf die Initiative des 
Reichstags nicht ankommen lassen. Wenn aber der Reichstag gleichwohl 
die Aktion begonnen hat, ohne sie mit dem erforderlichen Nachdruck fort- 
zusetzen, so wird dem Bundesrat allerdings nichts anderes übrig bleiben, 
als durch die eigene übernahme der Initiative einzugreifen. 
Falls der Reichstag die Initiative ergreift und fortsetzt, pflegen die 
Verbündeten Regierungen erst Stellung zu nehmen, wenn für den Initiativ- 
antrag in 2. Lesung ein Mehrheitsbeschluß erzielt ist. Dies entspricht der 
ständigen Praxis; vgl. die Erklärungen des Fürsten Bismarck in den Reichs- 
tagssitzungen v. 21. März 1867 St. B. 316 u. v. 17. Mai 1873 St. B. 711 
des Reichskanzlers Fürst Bülow in der Reichstagssitzung v. 5. Dez. 1900 
St. B. 301, des Staatssekretärs des Reichsschatzamts Frhr. v. Stengel in 
der Reichstagsfitzung v. 8. Mai 1906 St. B. 3013 C. Die Vertreter der 
Verbündeten Regierungen geben in der Regel offizielle Erklärungen ab, in 
denen sie den Initiativantrag als annnehmbar oder unannehmbar — mit oder 
ohne Bedingungen — bezeichnen; die Erklärung kann natürlich auch aus- 
weichend lauten. Diese Erklärung hat zwar noch keine formelle Rechts- 
wirkung — so Laband II S. 26 A. 5 — aber die Verbündeten Regierungen 
pflegen, wenn ihr Vertreter nicht nur für seine Person gesprochen hat, sich 
als gebunden anzusehen. Natürlich ist dabei vorausgesetzt, daß der Bundes- 
rat bereits in der Lage war, zu dem Antrage Stellung zu nehmen. Die 
Gelegenheit hierzu wird ihm dadurch geboten, daß der Präfident des Reichs- 
tags den Beschluß des Reichstags dem Reichskanzler mitteilt und daß dieser 
den Vorschlag des Reichstags dem Bundesrat zur Beschlußfassung vorlegt. 
Neben oder an Stelle der durch Vertreter mündlich erteilten Antwort des 
Bundesrats ist ein schriftlicher Bescheid üblich. Er ist, wie die Form der 
Stellungnahme des Bundesrats überhaupt, in der Verfassung nicht vor- 
geschrieben, entspricht aber seit 1872 einer ständigen Praxis; vgl. die Verhand- 
lungen des Reichstags v. 12. Juni 1872 St. B. 931 ff. und das Schreiben 
des Reichskanzlers v. 14. März 1873, Anl. Bd. III Nr. 14 S. 60. Auf Grund 
einer in diesem Schreiben gegebenen Zusage ist dem Reichstage eine über- 
sicht über die Entscheidungen des Bundesrats auf die Resolutionen des 
Reichstags bisher in jeder Session zugegangen, und der Reichstag hat dieser 
Praxis durch nähere Bestimmungen über die geschäftsordnungsmäßige Be- 
handlung der Mitteilungen Rechnung getragen (§ 34 G.O.). Es gehört
	        
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