V. Reichstag. Art. 23. 435
Regierungsvertreter erstreckt. Auch ist den Interpellationen charakteristisch,
daß fie nicht mit den anderen Gegenständen der Tagesordnung in Verbindung
zu stehen brauchen. Sie beziehen sich vorzugsweise auf Maßregeln und Er-
eignisse, die eben erst geschehen sind oder zu denen Stellung zu nehmen die
Volksvertretung bisher noch keine Gelegenheit hatte, sei es weil fie erst vor
kurzer Zeit zu ihrer Kenntnis gelangt find, sei es weil die Volksvertretung
erst zusammengetreten ist. In gleicher Weise wie Regierungsmaßregeln
werden Ereignisse jeder Art zur Sprache gebracht, die als eine unmittelbare
oder mittelbare Folge von Regierungsmaßregeln aufgefaßt werden oder denen
man glaubt mit Regierungsmaßregeln vorbeugend oder heilend begegnen zu
können, um nicht wünschenswerte Folgen für den einzelnen Fall zu beseitigen
oder um Wiederholungen gleichartiger Fälle für die Zukunft zu verhindern.
In der Interpellation ist meistens ein kritisches Element enthalten; selten
wird es sich nur um den Zweck der Information handeln. Die Regierung
soll zum Sprechen veranlaßt werden, damit die in der Volksvertretung ver-
körperte öffentliche Meinung zu den Beweggründen der Regierung Stellung
nehmen kann; die politische Verantwortlichkeit der Regierung soll dadurch
geltend gemacht werden, daß die Aufmerksamkeit weiter Kreise auf die Frage,
die den Gegenstand der Interpellation bildet, hingelenkt wird. Oft wird
unter diesem Gesichtspunkt die Interpellation durchaus den Wünschen der
Regierung entsprechen und ihren Zwecken förderlich sein, weil die Regierung,
wenn ihr Vorhaben oder ihr bisheriges Verhalten — z. B. in der aus-
wärtigen Politik — von der öffentlichen Meinung gebilligt wird, sich auf
die öffentliche Meinung stützen kann. Ebenso kann es der Regierung nur
erwünscht sein, wenn die Interpellation mit der sich anschließenden Ver-
handlung den Erfolg hat, daß Mängel der Verwaltung in den unteren
Instanzen aufgedeckt werden, und zwar Mängel, deren Bedeutung nicht mit
einem einzelnen Fall erschöpft ist — sonst bedarf es keiner Interpellation,
sondern nur einer einfachen Anzeige — vielmehr Mängel, die symptomatisch
sind und darauf hinweisen, daß da oder dort die Verwaltung nicht im Ein-
klang mit den Zielen der allgemeinen Staatspolitik steht. In dieser Kontrolle
durch einen von der Regierung unabhängigen Faktor liegt ein wirksamer
Schutz gegen denkbare Schäden des büreaukratischen Systems. Die Volks-
vertretung hat dabei keine entscheidende Stimme; fie bringt die als Mängel
und Fehler empfundenen Ereignisse nur zur Kenntnis der Regierung; aber
in der Autorität, die der Majorität eines starken Parlaments innewohnt,
und in dem Engagement der öffentlichen Meinung, das mit der Diskussion
im Parlament verbunden ist, liegen Momente von so realpolitischem Gewicht,
daß die Berücksichtigung der Beschlüsse des Parlaments, soweit sie sachlich
gerechtfertigt sind, gesichert ist, obgleich staatsrechtlich diese Beschlüsse den
Entscheidungen der Regierung gegenüber nichts anderes darstellen als Wünsche
und unverbindliche Vorschläge.
II. Das Interpellationsrecht des Reichstags.
Die Reichsverfassung enthält keine positive Bestimmung, die dem Reichs-
tag die Befugnis zu Interpellationen ausdrücklich einräumt. Doch übt der
Reichstag, seitdem er besteht, diese Befugnis praktisch aus und sein Recht
hierzu ist in unbezweifelter Geltung. Im konst. Reichstag wurden einige
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