Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

436 V. Reichstag. Art. 23. 
Amendements, welche die ausdrückliche Festsetzung des Interpellationsrechts 
bezweckten, zu Art. 23 gestellt, aber als überflüssig abgelehnt — St.B. 446 ff.; 
vgl. v. Seydel S. 203, Arndt S. 147, v. Rönne I S. 268 A. 3. Auch ein 
dem Art. 60 Abs. 2 der preuß. Verf. Urk. entsprechendes Amendement, wo- 
nach jede Kammer die Gegenwart der Minister verlangen kann, wurde 
abgelehnt, nachdem Fürst Bismarck in der Sitzung v. 29. März 1867 
St. B. 445 auf die Zwecklosigkeit der Bestimmung hingewiesen und ins- 
besondere ausgeführt hatte, daß die Verbündeten Regierungen selbst das 
größte Interesse hätten, im Reichstag vertreten zu sein, daß sie aber durch 
eine derartige Bestimmung noch nicht gezwungen seien, Auskunft zu geben und 
daß, wenn es ihnen aus besonderen politischen Gründen angezeigt erscheine 
zu schweigen, es zwecklos wäre, ihre Vertreter zum Erscheinen vor dem Reichs- 
tag zu nötigen, wo aus ihrer schweigenden Anwesenheit leicht der Schluß ge- 
zogen werden könnte, daß sie den Ausführungen der Abgeordneten zustimmten. 
Eine Auskunftspflicht besteht also für die Verbündeten Regierungen 
nicht. Gleichwohl hat das Recht der Interpellation aus den zu l angeführten 
Gründen erhebliche realpolitische Bedeutung, und es kann der Ansicht 
Labands I S. 284, daß die Interpellation überhaupt nicht als ein dem 
Reichstag zustehendes Recht, sondern nur als eine tatsächliche Erscheinung 
wie die auch vielen anderen Menschen zukommende Fähigkeit an die Regierung 
Fragen zu stellen, aufzufassen sei, nicht uneingeschränkt zugestimmt werden. 
Die Verbündeten Regierungen und die Reichsverwaltung find zwar zur Aus- 
kunft nicht verpflichtet, aber sie lehnen ebenso wie es in den Einzel- 
staaten geschieht, die Beantwortung der im Wege der Interpellation gestellten 
Fragen nur ausnahmsweise und nur aus sachlichen Gründen ab, also ent- 
weder wenn es sich um Angelegenheiten handelt, auf die sich ihr Verantwort- 
lichkeit nicht erstreckt, weil sie zur Zuständigkeit der Einzelstaaten gehören, 
oder wenn der Gegenstand der Interpellation in das Gebiet der ausschließ- 
lichen Prärogative des Kaisers fällt (Begnadigungen, Angelegenheiten des 
Militärkommandos) oder wenn es sich um Fragen handelt, die noch nicht 
spruchreif sind und deren Lösung durch vorzeitige Besprechung erschwert 
werden kann, z. B. schwebende Angelegenheiten der Gesetzgebung, oder um 
Angelegenheiten, deren Geheimhaltung aus Gründen der Staatssicherheit 
geboten ist, z. B. Fragen der auswärtigen Politik und militärische Maß- 
regeln. Die Verbündeten Regierungen verweigern also nach stets geübter 
Praxis, der eine gewisse staatsrechtliche Bedeutung innewohnt, die Beant- 
wortung nicht deshalb, weil sie dem Reichstag die Legitimation bestreiten, 
die zur Kompetenz des Reichs gehörigen öffentlichen Interessen in kritischer 
Form zur Sprache zu bringen. Privatpersonen würde man nur das Recht 
zugestehen, Beschwerden zu erheben und Fragen zu stellen, an denen sie ein 
persönliches Interesse haben, Vereinen und sonstigen öffentlichen oder privaten 
Verbänden auch nur bezüglich der Interessensphäre, die ihnen eigentümlich ist. 
über das Verfahren des Reichstags bei Interpellationen enthält die 
Geschäftsordnung im § 32 ff. Bestimmungen, die an die Tatsache an- 
knüpfen, daß der Gegenstand der Interpellationen von der Tagesordnung 
abseits liegt. Durch die Geschäftsordnung ist das Recht zur Interpellation 
nicht geschaffen, sondern durch die konstitutionelle Gewohnheit; deshalb kann 
es auch durch die Geschäftsordnung mit Wirkung gegenüber den Verbündeten 
Regierungen nicht erweitert werden.
	        
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