440 V. Reichstag. Art. 23.
Einigkeit, daß der Reichstag keinen unmittelbaren Zwang gegen irgend
jemand ausüben kann, sich als Zeuge oder Sachverständiger vernehmen zu
lassen, bestritten ist aber, ob der Reichstag berechtigt ist, Auskunftspersonen
oder Sachverständige mündlich oder schriftlich, ohne einen Zwang gegen
sie auszuüben, zu vernehmen. Dafür ist v. Seydel S. 203 und Wagner
a. a. O. S. 141, dagegen u. a. Arndt S. 148. Der letzteren Ansicht ist
beizutreten. Der Reichstag ist nach der Verfassung das Organ der Gesetz-
gebung und in dieser Eigenschaft dem Bundesrat grundsätzlich gleich-
berechtigt. Darüber hinaus hat er nur die Funktionen, die ihm in der
Verfassung ausdrücklich beigelegt sind oder bezüglich deren die Entstehungs-
geschichte der Verfassung klar ergibt, daß sie nur deshalb nicht in der Ver-
fassung ausdrücklich genannt wurden, weil sie als selbstverständlich angesehen
worden sind. Hinsichtlich des Rechts Enqueten zu veranstalten und eigen-
mächtig — ohne Mitwirkung der Regierungsorgane — durchzuführen, er-
gibt sich aus den Verhandlungen des konst. Reichstags, daß dieses Recht
dem Reichstag nicht zugestanden werden sollte. Man kann hier nicht all-
gemeine Rechtsgrundsätze anwenden, die jedermann gestatten, andere Personen,
ohne einen Zwang gegen fie auszusben, zu vernehmen, sondern der Reichs-
tag steht unter denselben einschränkenden Bestimmungen wie Verbände
politischer Natur. Sein Wirkungskreis beschränkt sich streng auf die durch
die Verfassung gezogenen Grenzen. Dem einzelnen Abgeordneten kann da-
gegen natürlich nicht verwehrt werden, wen immer er will, zu seiner
Information zu fragen oder, wenn man es so nennen will, zu vernehmen.
Der Staatssekretär des Innern Graf Posadowsky-Wehner erklärte in der
Reichstagssitzung v. 12. Mai 1906 St.B. 31388B, als der Antrag, den
Reichstagsmitgliedern freie Fahrt auf sämtlichen Eisenbahnlinien des Deutschen
Reichs zu gewähren, damit begründet wurde, daß die Abgeordneten selbst
Erhebungen an Ort und Stelle vornehmen wollten, daß es nach Ansicht
der Verbündeten Regierungen Sache der Exekutive sei, Erhebungen anzu-
stellen und Tatsachen zu erforschen, daß diese Aufgabe aber nicht innerhalb
eines parlamentarischen Mandats liege.
In der Petitions-Kommission ist in neuerer Zeit die Frage praktisch
geworden, ob der Reichstag ein Recht auf die Einsicht von Gerichtsakten
habe, und die Kommission hat entsprechend den Ausführungen des Regierungs-
vertreters angenommen, daß der Reichstag nicht das Recht hat, Akten un-
mittelbar einzufordern und in ihrer Mehrheit nahm die Kommission an,
daß der Reichstag zwar den Reichskanzler ersuchen könne, die Übersendung
von Akten an den Reichstag zu vermitteln, daß der Reichstag aber keinen
Anspruch darauf habe, daß diesem Ersuchen stattgegeben werde; Bericht
v. 23. Mai 1906 Anl. der 11. Leg.-Per. Seff. 2 Bd. 6 S. 4807 Nr. 494.
Dieser Standpunkt ist richtig. Es ist ein allgemeiner Grundsatz, daß an
andere Organe als öffentliche Behörden Akten zur Einsicht nicht überlassen
werden, und der Reichstag gehört nicht zu den öffentlichen Behörden; er
kann deshalb nicht alle Befugnisse in Anspruch nehmen, die öffentlichen
Behörden zustehen. Dieser Anspruch würde auch nicht im Einklang mit dem
Umstand stehen, daß im Gegensatz zu allen öffentlichen Behörden der Reichs-
tag keine gesetzliche Verantwortung dafür übernimmt, daß er sich in An-
gelegenheiten der Verwaltung bei seiner Beurteilung an das geltende Recht
gebunden fühlt und objektiv zu Werke geht. Er würde vielmehr nur seiner