V. Reichstag. Art. 24. 445
werden kann. Auch stellt mit Rücksicht auf die Stichwahlen der Tag der Wahl
keinen einheitlichen Zeitpunkt dar; aus der ersten Wahl geht nur ein Bruch-
teil der Abgeordneten hervor; wenn der Tag der Wahl maßgebend sein soll,
dürfte zweifelhaft sein, ob es der Tag der ersten Wahl oder der Tag der
Stichwahl ist. Dazu kommt die sprachliche Bedeutung des Wortes „Legis-
laturperiode“, auf die Arndt S. 134 verweist und die auf den Zeitraum
hindeutet, in welchem das Parlament zur Mitwirkung an der Gesetzgebung
befähigt ist; dies ist erst von der Einberufung ab der Fall; denn ohne fie
kann der Reichstag nicht in Aktion treten, also nicht über Gesetzesvorlagen
beschließen. Endlich ist folgender von Herrfurth a. a. O. geltend gemachter
Gesichtspunkt von Bedeutung: Unter Umständen erfordern es die parlamen-
tarischen Geschäfte, daß die Volksvertretung in einem gewissen Zeitpunkt
zur Arbeit bereit ist, in welchem bei Einhaltung des normalen Verfahrens
die Neuwahlen nicht erledigt sein können. Da in Preußen nach Art. 75
der Verf. Urk. die Neuwahl erst nach Ablauf der Legislaturperiode stattfindet,
bleibt für die Regierung nur übrig, das alte Parlament aufzulösen, um die
Neuwahlen auf einen früheren, im Interesse der zu erledigenden Geschäfte
besser geeigneten Zeitpunkt zu verlegen. Dies ist z. B. in Preußen bei der
letzten Neuwahl i. J. 1908 geschehen. Für das Reich besteht eine dem Art. 75
entsprechende Bestimmung nicht, und deshalb ist es hier für die Regierung
möglich, wenn auch nicht notwendig — falls sie nicht den Weg der Auflösung
vorzieht, wie einmal, i. J. 1873 R.G. Bl. S. 371, geschehen ist — die
Neuwahlen vor dem Schluß der alten Legislaturperiode vorzunehmen. Wäre
die Ansicht richtig, daß die Legislaturperiode schon mit dem Wahltage beginnt,
so würde sich daraus die absurde Konsequenz ergeben, daß zwei Parlamente
nebeneinander beständen.
II. Die Auflösung.
Durch die Auflösung verlieren die Abgeordneten die Mitgliedschaft des
Reichstags; bei sämtlichen Abgeordneten tritt der Verlust gleichzeitig ein.
Deshalb kann nach der Auflösung der alte Reichstag nicht mehr einberufen
werden; ebenso Laband ! S. 319, Zorn I S. 221, v. Seydel S. 205,
v. Rönne I S. 263, Meyer S. 448 A. 5, Arndt S. 136. Auch ist allgemein
anerkannt, daß der Reichstag, selbst wenn er nicht versammelt ist, aufgelöst
werden kann, also zwischen zwei Sessionsabschnitten wie während seiner
Vertagung, weil sich nach Art. 24 die Auflösungsbefugnis des Bundesrats
auf die ganze Dauer der Legislaturperiode erstreckt; ebenso Laband 1 S. 319,
v. Rönne I S. 264, v. Seydel S. 206, Arndt S. 136. Dagegen kann von
dem zu 1 vertretenen Standpunkt, wonach die Legislaturperiode mit der
erstmaligen Eröffnung des Reichstags beginnt, der neugewählte Reichstag
vor seiner erstmaligen Eröffnung nicht aufgelöst werden, da nach Art. 24
die Auflösung nur während der Legislaturperiode zulässig ist. In dieser
Konsequenz liegt keine Erscheinung, die aus allgemeinen staatsrechtlichen
oder politischen Gesichtspunkten für gefährlich oder auch nur für unerwünscht
angesehen werden könnte. Die Regierung hat kein denkbares Interesse, ein
Parlament aufzulösen, dessen Aktionsfähigkeit und Stellung zu der Wahl-
parole sie noch nicht kennt und höchstens nach dem politischen Ruf der
gewählten Abgeordneten beurteilen könnte, und keine Regierung wird unter
solchen Umständen die Maßregel der Auflösung ergreifen wollen, die nur