V. Reichstag. Art. 25. 26. 447
nehmen, kann nur im einzelnen Falle von den die volle politische Verant-
wortung für diese Entscheidung tragenden Regierungsorganen bestimmt
werden. In dieser Hinsicht ist ein Unterschied zwischen dem Reich und den
Einzelstaaten bemerkenswert. Eine Auflösung des Parlaments ist eine so
schwerwiegende Maßregel, daß wenn fie den erwarteten Erfolg nicht hat und
es sich nicht um Fragen handelt, deren Lösung im Sinne der Regierungs-
vorlage zu den Existenzbedingungen des Staates gehört, die verantwortlichen
Minister — eventuell nach vergeblicher Wiederholung der Auflösung — den
Ausweg versuchen werden von ihrem Amt zurückzutreten, um einen Wechsel
des bisher angewendeten politischen Systems zu erleichtern. Im Reich aber
wird die Auflösung von den Verbündeten Regierungen beschlossen, und der
einzige verantwortliche Minister des Reichs, der Reichskanzler, ist formell an
diesem Beschluß nur soweit beteiligt, als er in seiner Eigenschaft als preußi-
scher Minister an der Instruktion der preußischen Stimmen im Bundesrat mit-
wirkt. Hieraus ergibt sich, daß, solange die Verbündeten Regierungen nicht
zu einem Wechsel des politischen Systems entschlossen sind, der Rücktritt des
Reichskanzlers im Sinne der Verständigung mit dem Parlament gar keinen
Erfolg haben würde; vgl. Fürst Bismarck in der Reichstagssitzung v. 3. Dez.
1884 St. B. 166.
Artikel 25.
Im Falle der Auflösung des Reichstages müssen innerhalb eines Zeit-
raumes von 60 Tagen nach derselben die Wähler und innerhalb eines Zeit-
raumes von 90 Tagen nach der Auflösung der Reichstag versammelt werden.
Art. 25 entspricht dem Art. 51 der preuß. Verf.Urk. Es soll sicher
gestellt werden, daß das Land infolge einer Auflösung nicht längere Zeit
ohne Volksvertretung bleibt; vagl. Art. 24 ll.
Die allgemeinen Grundsätze über die Berechnung von Fristen find
anzuwenden. Der Tag der Auflösung, d. h. der Tag der Verkündigung der
Auflösungs-Verordnung zählt nicht mit; der folgende ist der erste Tag der
Fristen von 60 beg. 90 Tagen.
„Versammlung der Wähler“" bedeutet Abhaltung der Wahl. Die
Bedeutung der Worte „Versammlung des Reichstags“ könnte zu dem
Zweifel Veranlassung geben, ob die Berufung oder Eröffnung gemeint ist;
Art. 12. Da aber für den Zweck, der mit Art. 25 verfolgt wird, die Be-
rufung ohne die Eröffnung keinen Wert hat, so ist anzunehmen, daß der
Reichstag in der Frist von 90 Tagen nicht nur am Ort der Tagung, sondern
auch zum Zweck der Eröffnung versammelt und in die Lage gesetzt sein
muß seine erste Sitzung abzuhalten.
Für die Neuwahlen nach dem regelmäßigen Ablauf der Legislaturperiode
ist eine bestimmte Frist nicht vorgeschrieben. Doch ergibt sich indirekt eine Frist
aus der Notwendigkeit der jährlichen Feststellung des Etatsgesetzes; vgl. Herr-
furth, D. Jur. Zeit. 1898 S. 1.
Artikel 26.
Ohne Zustimmung des Reichstages darf die Vertagung desselben die
Frist von 30 Tagen nicht übersteigen und während derselben Session nicht
wiederholt werden.