V. Reichstag. Art. 27. 451
Geschäftsordnung bindet nur den gegenwärtigen Reichstag. In jeder folgen-
den Legislaturperiode hat der neu gewählte Reichstag freie Hand, die
Geschäftsordnung zu übernehmen oder abzulehnen; doch ist natürlich die
Übernahme die Regel. Zurzeit ist die G. O. v. 10. Febr. 1876 mit Abände-
rungen v. 5. u. 16. Febr. 1895, 14. Nov. u. 9. Dez. 1902 in Kraft (ab-
gedruckt bei Triepel, Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht
S. 188 ff.). Auch der Reichstag, der die Geschäftsordnung oder einzelne
ihrer Bestimmungen erlassen hat, darf sie abändern, doch ist sie für ihn
bindend, solange fie nicht abgeändert ist; vgl. Laband 1 S. 820. Der
Reichstag kann sich also nicht implicite durch einen mit der Geschäfts-
ordnung im Widerspruch stehenden Beschluß über sie hinwegsetzen. Hierin
liegt ein unentbehrlicher Schutz der Minderheit. Für den Bundesrat und
die Reichsverwaltung stellen alle Fragen der Geschäfsordnung eine innere
Angelegenheit des Reichstags dar; vgl. Fürst Bismarck in der Reichstags-
sitzung v. 10. März 1870 St. B. 250 und oben Art. 2 II S. 48. Doch wird
dadurch das den Mitgliedern des Bundesrats auf Grund des Art. 9 R.V.
zustehende Recht nicht ausgeschlossen, ausnahmsweise auch zu solchen Fragen
das Wort zu ergreifen.
In Verfolgung des dem Art. 27 zugrunde liegenden Gedankens, daß der
Reichstag seine inneren Angelegenheiten selbst ordnet, ist in dem Reichs-
beamtenges. R.G. Bl. 1907 S. 278 8 156 bestimmt, daß der Präsident des
Reichstags die Reichstagsbeamten anstellt und ihre vorgesetzte Behörde
bildet.
II. Die Disziplin.
Zu der Bestimmung, daß der Reichstag seine Disziplin regelt, enthält
die G. O. im 88 13, 42, 46, 60—64 Ausführungsvorschriften. Auf die
Mitglieder des Bundesrats erstrecken sich die Disziplinarbefugnisse des
Präfidenten nicht; val. Art. 9 1 5 S. 261 ff.
Die dem Präsidenten und dem Plenum des Reichstags gegenüber den
einzelnen Abgeordneten zustehenden Disziplinarbefugnisse haben das Ziel,
den ruhigen und sachlichen Fortgang der Debatte sicherzustellen. Dieser
Tendenz, der einzigen, die der Leitung der Debatte innewohnen darf, kann
bei großer politischer Erregung ohne formale Verletzung der Disziplinar-
vorschriften dadurch entgegengewirkt werden, daß die Minderheit des Parla-
ments, die bei einem Beschluß zu unterliegen fürchtet, oder einzelne ihrer
Mitglieder die Bestimmungen der Geschäftsordnung dazu anwenden, um
die Debatte ohne sachlichen Grund in die Länge zu ziehen, z. B. durch
Reden, die infolge Wiederholung desselben Gedankens, Abschweifung von
der Sache oder eine zu breite Darstellung eine sachlich ungerechtfertigte
Ausdehnung annehmen, oder durch gehäufte Anträge auf namentliche Ab-
stimmung oder durch lang ausgesponnene Bemerkungen zur Geschäfts-
ordnung, alles Mittel, die unter dem Schlagwort „Obstruktion“ als ein
Kampfmittel der Minderheit gegen die Mehrheit bekannt find. Um solchen
Bestrebungen entgegenzuwirken, ist aus Anlaß der Verhandlungen über
den Zolltarif v. 1900 in einigen der in Betracht kommenden Punkte die
Geschäftsordnung geändert worden. Hierin liegt kein Moment, das mit
dem Geist oder mit positiven Bestimmungen der Verfassung im Widerspruch
steht. Im Gegenteil, die Verfassung schreibt im Art. 28 ausdrücklich vor,
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