V. Reichstag. Art. 29. 455
eine entscheidende Stellung zu den Anträgen enthalten ist. Eine Ausnahme
bilden die vom Reichstag für das Präsidium, die Schriftführer und die
Mitglieder der Reichs-Schuldenkommission vorzunehmenden Wahlen. Hier
kommen sogar Wahlen mit relativer Stimmenmehrheit vor, z. B. für die
Schriftführer nach § 10 G. O. Es ist nicht notwendig, daß die Verfassung,
wie es die preuß. Verf. Urk. im Art. 80 Abs. 1 S. 2 allerdings getan hat,
einen Vorbehalt für diesen von Art. 28 abweichenden Abstimmungsmodus
enthält, weil die relative Abstimmung #mter betrifft, deren Besetzung nicht
nur, sondern deren Einrichtung auch in das Gebiet der Autonomie des
Reichstags fällt.
Ursprünglich enthielt Art. 28 in einem 2. Absatz eine dem Art. 7 Abfs. 4
entsprechende Bestimmung. Diese Vorschrift, die mit der dem Art. 29 zu-
grunde liegenden Idee nicht im Einklang stand, ist durch Ges. v. 24. Febr.
1873 R. G. Bl. S. 45 aufgehoben worden.
Artikel 29.
Die Mitglieder des Reichstages sind Vertreter des gesamten Volkes
und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.
Durch Art. 29 wird zum Ausdruck gebracht, daß der Reichstag das-
jenige Organ ist, durch welches das Volk an der Regierung teilnimmt und
ferner daß jedes einzelne Mitglied des Reichstags sich als Vertreter des
ganzen Volkes fühlen soll. Jedoch hat die Vertretung wenig mit dem zivil-
rechtlichen Institut der Stellvertretung gemeinsam. Man könnte am ehesten
an eine Blankovollmacht denken, die durch den Wählerkreis dem Abgeordneten
ausgestellt wird, zeitlich auf die gesetzlich bestimmte Dauer der Legislatur-
periode beschränkt ist und den gesetzlich ebenfalls festgelegten Inhalt hat,
daß der gewählte Abgeordnete die Interessen des ganzen Volkes, nicht nur
die des Bundesstaats, in welchem er gewählt ist, oder gar nur diejenigen
seines Wahlkreises oder noch weniger die einzelner Wähler vertritt. Ebenso
widerspricht es dem Geist wie dem klaren Wortlaut des Art. 29, wenn ein
Abgeordneter nur die Interessen einzelner Berufsstände oder sozialer Klassen
der Bevölkerung wahrnimmt. Man kann selbst bei größter politischer
Objektivität nicht an der Tatsache vorübergehen, daß in der letzteren Richtung
die Bestimmung des Art. 29 in der realpolitischen Situation keine Ver-
wirklichung findet, und wenn auch Art. 29 ein nahezu unerreichbares Ideal
aufstellt, so sind doch die tatsächlichen Verhältnisse im Begriff, sich fast in
entgegengesetzter Richtung zu entwickeln. Namentlich seitdem in dem politischen
Kampfe der Parteien die nationalen Fragen durch die wirtschaftlichen zurück-
gedrängt worden sind, haben die politischen Parteien in der Volksvertretung
sich mindestens zum großen Teile nach Berufsständen gruppiert und ver-
treten demzufolge überwiegend Berufsinteressen, nämlich die Interessen eines
oder mehrerer wirtschaftlich verwandter Berufsstände. Hand in Hand damit
geht eine Zersplitterung der Parteien, die weiter reicht, als es im allgemeinen
in Nachbarländern zu beobachten ist. Diese Erscheinung ist nicht zufällig,
sondern in den sozialen Verhältnissen mit einer gewissen inneren Notwendig-
keit begründet. Aus der parlamentarischen Situation kann der Rückschluß
gezogen werden, daß das Volksleben von wirtschaftlichen Fragen mindestens