Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

458 V. Reichstag. Art. 30. 
I. Zur Entstehungsgeschichte des Art. 30. 
Art. 30 entspricht wörtlich dem § 120 der von der Frankfurter 
Nationalversammlung beschlossenen Verfassung des Deutschen Reichs v. 
28. März 1849. Die Frankfurter Reichsverfassung hat ihrerseits die Be- 
stimmung aus einem zur vorläufigen Geltung bestimmten, ebenfalls in 
Frankfurt erlassenen Gesetz v. 30. Sept 1848 übernommen, das die Ab- 
geordneten schon vor Erlaß der damaligen Reichsverfassung wegen ihrer 
parlamentarischen Tätigkeit gegen Angriffe sichern sollte; vgl. die Ausführungen 
des Staatssekretärs des Reichs-Justizamts Nieberding in der Reichstagssitzung 
v. 22. April 1907 St. B. 1012 und v. Rönne 1 S. 270 A. 1. Diesem 
Gesetz mögen Bestimmungen des englischen und belgischen Rechts zum 
Vorbild gedient haben. Für das englische Recht enthält der vom Reichs- 
gericht (III. Strff. Urt. v. 5. März 1881 Bd. 4 S. 17) in diesem Zusammen- 
hang angeführte Art. 9 der bill of right von 1689 die entsprechende Be- 
stimmung: „the freedom of speech and debates or proceedings in 
parliament ought not to be impeached or questioned in any court or 
place out of parliament". — Die Abgeordneten können wegen ihrer im 
Parlament getanen Außerungen an keiner anderen Stelle als im Parlament 
selbst zur Verantwortung gezogen werden. — Aus der Verfassung der Frank- 
furter Nationalversammlung ist die Bestimmung im § 17 des Wahlgesetzes 
v. 15. Okt. 1866 für den Reichstag des Norddeutschen Bundes (Ges.S. 
S. 737) und von dort in den Art. 28 des Verfassungsentwurfs der Ver- 
bündeten Regierungen und in den Art. 30 R.V. übergegangen. 
Für die Parlamente der Einzelstaaten enthält § 11 Str.G.B. eine ent- 
sprechende, nicht ganz gleichlautende Bestimmung, durch welche die enger 
gefaßte, nämlich auf die „in der Kammer ausgesprochenen Meinungen“ be- 
schränkte Vorschrift des Art. 84 Abs. 1 der preuß. Verf.Urk. ersetzt ist. 
Ebenso wie Art. 30 sich an die im Art. 29 gegebene Vorschrift über 
die Freiheit der Abgeordneten von Aufträgen und Instruktionen anschließt, 
folgt Art. 84 Abs. 1 der preuß. Verf. Urk. unmittelbar der dem Art. 29 
R.V. entsprechende Bestimmung des Art. 83. Dies ist gewiß kein Zufall. 
Man kann daraus schließen, daß die durch Art. 30 (bez. Art. 84) bestimmte 
Unverantwortlichkeit der Parlamentsmitglieder als Aquivalent für die ihnen 
auferlegte Pflicht nur nach ihrer freien Uberzeugung zu stimmen aufzufassen 
ist; die den Abgeordneten zur Pflicht gemachte Unabhängigkeit wird dadurch 
sicher gestellt, daß sie jeder außerparlamentarischen Verantwortlichkeit entrückt 
werden. Dies ist für die Auslegung wichtig. 
II. „Kein Mitglied des Reichstags“. 
Nur die Abgeordneten genießen den Schutz. Auf die Mitglieder 
des Bundesrats, ihre Stellvertreter und Kommissare findet Art. 30 keine 
Anwendung, ebensowenig 8§ 11 Str.G.B.; höchstens die Bestimmung des 
§ 198 Str.G.B. (Wahrnehmung berechtigter Interessen) könnte ihnen zu 
statten kommen; ebenso Oppenhof 8 11 A. 2, Olshausen S. 80, Arndt S. 140. 
III. „darf“. 
Aus dem Worte „darf“ in diesem Zusammenhange ist zu folgern, daß 
Art. 30 zwingendes Recht darstellt und daß also kein Abgeordneter auf das
	        
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