Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

V. Piichstag. Art. 30. 461 
werden kann, hieße es den Reichstag herabwürdigen, wenn man. — in 
welchem Zusammenhange es auch sei — annehmen wollte, daß ein Ab- 
geordneter eine Tätlichkeit in Ausübung seines Berufs begangen haben 
könnte. 
VIII. „gerichtlich verfolgt". 
Dem Art. 30 liegt die Tendenz zugrunde, daß die Abgeordneten wegen 
derjenigen Außerungen, auf die sich der Schutz erstreckt, jeder außerparla- 
mentarischen Verantwortung entzogen, also weder strafrechtlich noch civil- 
rechtlich haftbar sein sollen; vgl. Olshausen § 11 A. 1, 4, Oppenhof § 11 
A. 5, Laband 1 S. 331 A. 2, Binding a. a. O. 1 S. 676, Hubrich a. a. O. 
S. 390. Auch kann die von einem Abgeordneten ausgesprochene Beleidi- 
gung nach einer Entsch., des Reichsgerichts v. 5. März 1881, III. Strfs. 
Bd. 4 S. 14 nicht zur Aufrechnung gemäß § 199 Str.G.B. benutzt werden; 
ebenso Olshausen § 11 A. 5. Dagegen verhindert nach den Ausführungen 
derselben Entscheidung Art. 30 nicht, daß die von einem Abgeordneten 
ausgesprochene Beleidigung als ein Faktum im Hinblick auf die Bestim- 
mungen des Strafgesetzbuchs behandelt wird und deshalb dem Gegner das 
Recht auf Notwehr und den Schutz des § 193 Str. G. B. — Wahrnehmung 
berechtigter Interessen — geben kann; ebenso Oppenhof 8 11 A. 6 und 
Olshausen 8 11 A. 5 a. Auch hat das Reichsgericht in einer Entsch. 
v. 20. Okt. 1880, III. Strfs. Bd. 2 S. 365 es gebilligt, daß Außerungen, 
denen der Schutz des Art. 30 R.V. zukommt, als Beweismaterial für 
andere strafbare Tatsachen benutzt werden; das Reichsgericht hat deshalb 
die Bestrafung eines Abgeordneten für zulässig erklärt, der in einem 
Zeitungsartikel kundgegeben hatte, er halte die in seiner Reichstagsrede 
enthaltenen — zweifellos beleidigenden — Außerungen aufrecht; überein- 
stimmend: Olshausen § 11 A. 6, Oppenhof § 11 A. 6. 
Auch die Anstiftung zu außerhalb des Parlaments begangenen Ver- 
gehen oder Verbrechen durch Außerungen, die im Reichstag getan find, 
ist strafbar; ebenso Olshausen § 11 A. Zb, Oppenhof 811 A. 4. Dabei 
ist zu berücksichtigen, daß eine Anstiftung nicht vorliegt, wenn eine außer- 
halb des Reichstags stehende Person sich durch eine im Reichstage getane 
Außerung zu einer strafbaren Handlung gereizt fühlt, sondern der Tat- 
bestand des die Anstiftung regelnden § 48 Str. G. B. erfordert, daß der 
Abgeordnete den Vorsitz der Anstiftung gehabt und eins der im § 48 an- 
geführten Mittel angewendet hat. Sind diese Voraussetzungen aber gegeben, 
so liegt in der gerichtlichen Verfolgung des Abgeordneten kein Verstoß gegen 
Art. 30, denn da nach allgemeinen strafrechtlichen Grundsätzen, wenigstens 
nach der herrschenden Ansicht, der strafbare Erfolg für die zeitliche und 
örtliche Qualifikation der Handlung entscheidet, so ist es im Falle der 
Anstiftung nicht die im Reichstage getane Außerung, sondern die außer- 
halb des Reichstags begangene (vollendete) Handlung, die unter Strafe 
gestellt wird. 
IX. „disziplinarisch verfolgt“. 
Unter „disziplinarischer Verfolgung“ ist nur das gegen unmittelbare 
und mittelbare Reichs= und Staatsbeamte bestehende, gesetzlich geordnete 
Disziplinarverfahren zu verstehen; vgl. Laband 1 S. 331. Kommunal= 
beamte find ebenfalls geschützt, weil sie zu den mittelbaren Staatsbeamten
	        
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