II. Reichsgesetzgebung. Art. 2. 39
Gesetze nicht mehr erlassen können, während eine gesetzliche Regelung er-
forderlich ist, besteht für das Reich die politische Notwendigkeit, seinerseits
Gesetze zu erlassen. Jedoch find dies Ausnahmefälle, die an der allgemeinen
Geltung der Regel nichts ändern.
Aus der Tatsache, daß alle Staatsfunktionen und insbesondere alle
Gesetzgebungsbefugnisse, die dem Reich nicht ausdrücklich übertragen find,
bei den Einzelstaaten geblieben sind, und ferner aus der Tatsache, daß
soweit dem Reich die Gesetzgebung ohne die Klausel der Ausschließlichkeit
übertragen ist, das Reich nur berechtigt, nicht verpflichtet ist, von seiner
Gesetzgebungsbefugnis Gebrauch zu machen, ergibt sich, daß für die nicht
ausschließlich der Gesetzgebung des Reichs zugewiesenen Materien eine kon-
kurrierende Gesetzgebungsbefugnis der Einzelstaaten noch fortbesteht —
natürlich mit der Einschränkung, daß soweit Reichsgesetze erlassen werden,
sie den Landesgesetzen vorgehen. Ausschließlich ist das Reich zur Gesetz-
gebung über folgende Materien zuständig:
a) das Zollwesen und die dem Reich überwiesenen indirekten Steuern,
mit der Einschränkung, daß die Regelung der Biersteuer nicht für
Bayern, Württemberg, Baden und Elsaß-Lothringen gilt — Art. 35 —
die entsprechende Einschränkung für die Branntweinsteuer, die Art. 35
noch vorsieht, ist durch die spätere Reichsgesetzgebung aufgehoben.
b) die Kriegsmarine nach Art. 53 und Art. 4 Ziff. 14,
hc) die Handelsmarine nach Art. 54,
d) das Konsulatwesen nach Art. 56,
e) das Militärwesen nach Art. 61 und 4 Ziff. 14 mit den praktisch
nicht mehr bedeutungsvollen Einschränkungen für Bayern und Mürt-
temberg nach der Schlußbestimmung zum XI. Abschnitt der Reichs-
verfassung,
s) das Post= und Telegraphenwesen nach Art. 48 und 4 Ziff. 10 mit
einer Einschränkung für Bayern und Mürttemberg.
Von diesen Materien ist allerdings nur für die erstgenannte, die Zoll-
und Steuergesetzgebung klar ausgesprochen, daß die Gesetzgebung des
Reichs ausschließlicher Natur ist. Bezüglich der anderen Materien ergibt
sich die Ausschließlichkeit der Reichsgesetzgebung indirekt aus der Reichs-
verfassung, da es sich um Einrichtungen handelt, die vom Reich verwaltet
werden und die deshalb der Natur der Sache nach der landesgesetzlichen
Regelung entzogen sein müssen, während umgekehrt weite Gebiete der Staats-
funktionen, die der Verwaltung der Einzelstaaten unterliegen, vom Reiche ge-
setzlich geregelt werden können, z. B. Rechtspflege, Gewerbe-, Medizinalpolizei.
Aus demselben Grunde fallen diejenigen Einrichtungen, die nur das Reich
angehen und die Selbständigkeit des Reichs gegenüber den Einzelstaaten be-
gründen, in die ausschließliche Gesetzgebung des Reichs, z. B. die Regelung
der Verhältnisse der Reichsbehörden und Reichsbeamten, das Wahlrecht
für den Reichstag, die Finanz= und Etatsverhältnisse des Reichs und
die Angelegenheiten der Schutzgebiete. Hier ist die Ausschließlichkeit der
Reichsgesetzgebung selbstverständlich und bedarf keiner besonderen Ver-
faffungs= Grundlage, die in der Tat fehlt; vgl. Laband II. S. 110 f.,
v. Seydel S. 111, Hänel Studien 1, S. 259ff., anderer Ansicht Zorn I,
S. 422.