462 V. Reichstag. Art. 30.
gehören. Es soll die Unabhängigkeit der Beamten in Ansehung ihrer Eigen-
schaft als Abgeordnete gegenüber den vorgesetzten Dienstbehörden gefichert
werden. Sogen. Privatbeamte oder Arbeitnehmer irgendwelcher Art kommen
hier nicht in Betracht, weil ein gesetzlich geordnetes Disziplinarverfahren
ihnen gegenüber nicht besteht. Wenn von ihrem Dienstherrn ein Druck
gegen sie ausgeübt wird, so gibt es keinen verfassungsmäßigen Schutz da-
gegen; Maßregeln solcher Art würden schon deshalb wirkungslos sein, weil
nicht zu verhindern sein würde, daß den meist auf Zeit angestellten Privat-
beamten gegenüber die Entlassung, in welcher der schärfste Druck liegt,
unter irgendeinem Vorwand ausgesprochen wird, wenn darin ein geeignetes
Mittel zur Beeinflussung des Abgeordneten liegt.
X. Die sonstige Verantwortung.
Im Sinne des Verfassungstextes liegt es, daß der den Abgeordneten
gewährte Schutz so generell und der Ausschluß der Verantwortung so um-
fassend ist, daß der Wegfall der gerichtlichen und disziplinarischen Verant-
wortung nur als ein Beispiel hervorgehoben ist; vgl. Müller-Meiningen in
Hirth's Annalen 1906 S. 650. Gleichwohl können auch hier nur behörd-
liche Eingriffe gemeint sein, nicht etwa die Verfolgung, die sich an ein
privates Dienstverhältnis oder an die Beziehungen des privaten gesell-
schaftlichen Lebens knüpfen kann, weil die Angriffe, die im Privatdienst
und im Privatleben gegen die Unabhängigkeit von Abgeordneten unter-
nommen oder versucht werden, schlechterdings nicht verhindert werden können.
Der Staat kann sich in der behördlichen Gewalt, die für ihn oder die
ihm untergeordneten öffentlichen Verbände durch den Staats- oder Kom-
munaldienst begründet ist, durch eine einfache Zusage, wie sie Art. 30
enthält, eine wirksame Selbstbeschränkung auferlegen; sollte Art. 30 sich
auch auf den Privatdienst beziehen, so wäre die Bestimmung eine lex
impersecta, weil es an einer straf= oder civilrechtlichen Haftpflicht für die
Erfüllung fehlt.
Auch in Ansehung der Staatsgewalt ist der den Abgeordneten zu-
gesagte Schutz nicht schrankenlos. „Zur Verantwortung ziehen“ heißt nach
dem Wortsinn von jemandem unter dem Hinweis auf Schuld und Strafe
Erklärungen verlangen. Daraus ergibt sich ohne weiteres, daß nicht jede
Staatshandlung, die wegen irgendwelcher zufälliger Nebenwirkungen dem
Abgeordneten Nachteile bringt, unzulässig ist, sondern nur Staatshandlungen,
die darauf berechnet find, den Abgeordneten unmittelbar zur Verantwortung
zu ziehen. Dabei bleibt der letztere Begriff weiter als die gerichtliche und
disziplinarische Verfolgung, wie es auch die Verfassung voraussetzt. Es
fällt z. B. darunter das vom Staatsanwalt eingeleitete und eventuell ohne
jede Beteiligung des Gerichts durchgeführte vorbereitende Verfahren, das
im Sinne der Strafprozeßordnung von dem gerichtlichen Verfahren begrifflich
geschieden ist, ferner das militär-ehrengerichtliche Verfahren, das zwar vom
Kaiser in Ausübung seiner Kommandogewalt mit Gesetzeskraft geregelt ist,
aber dennoch nicht in das Gebiet der ordentlichen Rechtspflege gehört. Man
könnte ferner Polizeistrafen hierher rechnen. Die civilrechtliche Haftung
fällt unter den Begriff der gerichtlichen Verfolgung, weil sie ein Teil der
ordentlichen Rechtspflege ist; vgl. Hubrich a. a. O. S. 389 ff.