Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

V. Reichstag. Art. 30. 463 
XI. Kein Zengnisverweigerungsrecht. 
Da „zur Verantwortung ziehen“ soviel heißt als jemanden unter Hin- 
weis auf Schuld und Strafe zur Erklärung auffordern, so ergibt sich aus 
Art. 30 kein Recht zur Zeugnisverweigerung für die Reichstagsmitglieder; 
die Ablegung eines Zeugnisses ist von einer verantwortlichen Erklärung ver- 
schieden; es ist unerheblich, ob dem Abgeordneten aus der Erfüllung der 
Zeugnispflicht Nachteile und Unannehmlichkeiten erwachsen; ebenso die 
herrschende Meinung, u. a. Laband I S. 331 und D. ur. Zeit. 1906 S. 954, 
v. Seydel S. 212, Zorn 1 S. 230 A. 32, Meyer S. 338 A. 17, Arndt S.140, 
Binding, Strafrecht 1 S. 676 A. 13, Olshausen § 11 A. 5b, Oppenhof § 11 
A. 6, Hubrich S. 371 f., Löwe-Hollweg St. P. O. 8§ 51 — 54 A. 9, Stenglein 
St. P. O. 9 52 A. 14, Gaupp-Stein C.P.O. 8 303 A. 2, Bornhak preuß. 
Staatsrecht 1 S. 399 ff., Reincke S. 184, Altsmann Arch. f.öff. R. Bd. 1 
S. 589 ff., Mittelstädt in d. Preuß. Jahrbüchern 1886 S. 557, Stranz in 
d. D. Jur. Zeit. 1907 Sp. 279; in demselben Sinne haben sich erklärt: der 
Staatssekretär des Innern v. Bötticher in der Reichstagssitzung v. 10. März 
1886 St. B. 1399 f., insbesondere S. 1403, und der Staatssekretär des 
Reichs-Justizamts Nieberding in der Reichstagssitzung v. 22. April 1907 
St. B. 1012; ersterer hat unter Berufung auf die Ausführungen des Abg. 
v. Hammerstein mit Recht darauf hingewiesen, daß weder die Civil= noch 
die Strafprozeßordnung die Abgeordneten unter denjenigen Personen nenne, 
die ein Zeugnisverweigerungsrecht haben. Die entgegengesetzte Ansicht ist 
vertreten von Fuld im Arch. f. öff. K. Bd. 4 S. 344 und in Hirth's Annalen 
1888 S. 6 ff., ferner in der Reichstagssitzung v. 10. März 1886 von den 
Abg. Windthorst und Hänel, unter Hinweis auf die Nachteile, die mittelbar 
dem Abgeordneten aus der Ablegung eines Zeugnisses erwachsen können, 
ferner mit ähnlicher Begründung von Müller-Meiningen in Hirth's Annalen 
1906 S. 650 ff. Stellt sich z. B., worauf letzterer hinweist, durch die 
Zeugenvernehmung heraus, daß der Abgeordnete strafbare Handlungen außer- 
halb der Ausübung seines Berufs begangen hat, so kann allerdings das 
Zeugnis die Bestrafung des Abgeordneten im Gefolge haben, aber daraus 
ergibt sich kein Widerspruch mit der Tendenz des Art. 30. Denn auf straf- 
bare Handlungen, die von dem Abgeordneten außerhalb seiner parla- 
mentarischen Funktionen begangen sind, bezieht sich Art. 30 nicht und die 
Bestrafung dafür bedeutet auch dem Abgeordneten gegenüber nichts anderes 
als eine Verwirklichung des geltenden Rechts. 
Die Verhandlungen des Reichstags v. 22. April 1907 St. B. 1034 f. 
schlossen mit einer Resolution des Reichstag, durch die der Reichskanzler er- 
sucht wurde, einen Gesetzentwurf betr. Feststellung des Zeugnisverweigerungs- 
rechts für die Reichstagsabgeordneten vorzulegen; vgl. auch Anlagen S. 760, 
765, 774, Nr. 105, 113, 130. 
XII. Durchsuchung. 
J. J. 1906 wurde die Frage zum ersten und bisher einzigen Male 
praktisch, ob eine Durchsuchung zum Zwecke der Auffindung von Beweis- 
material auf Grund des 8§8 103 St. P.O. gegenüber einem Abgeordneten im 
Parlamentsgebäude zulässig sei. Am 10. Juli 1906, zu einer Zeit, als 
der Reichstag nicht versammelt war, fand sich der zuständige Untersuchungs-
	        
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