466 V. Reichstag. Art. 31.
das Gesetz v. 28. Juni 1848 betr. den Schutz der zur Vereinbarung der
yreußischen Verfassung berufenen Versammlung — Ges. S. S. 157 —
zurückzuführen. Die Bestimmung ist also für Preußen in einer politisch
bewegten Zeit eingeführt worden, und es ist wahrscheinlich, daß dabei die
Absicht vorwaltete, die Abgeordneten gegen tendenziöse Verfolgung zu schützen,
weil vielleicht mit der Möglichkeit gerechnet wurde, daß mißliebige Ab-
geordnete mittels eines von politischen Gesichtspunkten ausgehenden kriminellen
Verfahrens von den parlamentarischen Geschäften ferngehalten werden könnten;
vgl. v. Rönne 1 S. 271 A. 2, 3, S. 272ff., Reichsgericht Entsch. v. 25. Febr.
1892 III. Strafs. Bd. 22 S. 380 und v. 9. Juni 1893 IV. Straff., Bd. 24
S. 207. Eine derartige Abhängigkeit der Rechtspflege von politischen.
Zwecken ist im modernen Rechtsstaat undenkbar und kommt nicht mehr als
irgend eine andere absichtliche Beugung des Rechts praktisch in Betracht.
Das Privileg der Exemption von dem gesetzlichen Lauf der Rechtspflege,
das durch Art. 31 den Abgeordneten gegeben wird, reicht an sich schon sehr
weit, z. B. weiter als die entsprechende Bestimmung der englischen Verfassung,
die sich nur auf Zivil- und nicht auf Kriminalfälle erstreckt; vgl. preuß.
J.M. Bl. 1875 S. 7, 8. Die Praxis des Reichstags hat aber dem Art. 31
ein Anwendungsgebiet gegeben, das noch weit über dessen ursprüngliche
Zweckbestimmung hinausgeht. Jetzt scheint die Erwägung vorzuherrschen,
daß, abgesehen vielleicht von schweren, ehrverletzenden Straftaten, der Rechts-
pflege gegenüber Abgeordneten nicht freier Lauf gelassen wird. Der Abg.
Lette, auf dessen Antrag die Bestimmung des Art. 81 aus der preuß. Ver-
fassung übernommen worden ist, erklärte zur Begründung seines Antrags
in der Reichstagssitzung v. 30. März 1867 St. B. 468, daß der Reichstag
nicht zu erwägen habe, ob ein Grund zur Verfolgung vorliege, weil er da-
mit in die richterliche Kompetenz eingreisen würde, sondern er habe nur
zu erwägen, ob das Interesse des Landes einen Reichstagsabgeordneten in
der Versammlung zu sehen größer sei als das Interesse der Justiz ihn zu
verfolgen. Diese als Richtschnur anheim gegebene Abwägung der Interessen
beruht allerdings auf dehnbaren Begriffen. Man kann es als dem Geist
der Bestimmung entsprechend anerkennen, wenn der Reichstag die Genehmigung
versagt bei allen Delikten, die, ohne ehrenrührig zu sein, im ursächlichen Zu-
sammenhang mit dem politischen Kampf stehen, in den die Abgeordneten
kraft ihrer politischen Stellung verwickelt sind. Es kommt ferner die von
dem Abg. Lette berührte Frage in Betracht, ob die Bedeutung der Anklage
im richtigen Verhältnis steht zu dem unter allgemeinen konstitutionellen
Gesichtspunkten unerwünschten Fall, daß ein Abgeordneter ohne die Möglich-
keit einer Ersatzwahl der Teilnahme an parlamentarischen Geschäften zeitweise
entzogen ist; unter solchen Erwägungen ist die Versagung der Genehmigung
auch in unpolitischen Strafsachen zu rechtfertigen. Ubrigens ist der Reichstag
bei dieser Entscheidung frei und die Verfassung verhindert nicht, daß er die
Versagung der Genehmigung zur Regel macht. Die Schuldfrage wird, so-
weit es die Reichsverhandlungen erkennen lassen, im allgemeinen nicht
geprüft; dies wäre auch zwecklos, denn die Ansicht des Reichstags wäre für
die Gerichte nicht bindend, und es würde mit der Unabhängigkeit der Rechts-
pflege unvereinbar sein, wenn eine solche Kundgebung des Reichstags mit
2 Anspruch verbunden wäre, daß die Gerichte darauf Rücksicht nehmen
ollten.