Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

V. Reichstag. Art. 31. 471 
B. Die Verhaftung zum Zwecke der Strafvollstreckung. 
Unter Verhaftung im Sinne des Abs. 1 ist nur die Untersuchungs- 
haft zu verstehen. Dies ergibt der Abs. 2, der überflüssig wäre, wenn 
Abs. 1 jede Art der Haft umfassen würde. Die Worte „wegen einer mit 
Strafe bedrohten Handlung"“ beziehen sich also ebenso auf die Worte „oder 
verhaftet werden“ wie auf die Worte „zur Untersuchung gezogen“. Hieraus 
geht hervor, daß die Verhaftung zum Zwecke der Strafvollstreckung nicht 
unter Abs. 1 fällt, denn die Verhaftung erfolgt in diesem Falle nicht wegen 
einer mit Strafe bedrohten Handlung, sondern wegen einer bereits rechts- 
kräftig erkannten Strafe. Auch hat die Anknüpfung des Ausnahmefalls der 
Ergreifung bei Ausübung der Tat nur Sinn, wenn vorher ausschließlich die 
Untersuchungshaft gemeint ist. Ungeachtet dieses eigentlich klaren Wortlauts 
ist es über die Zulässigkeit der Strafvollstreckung während der Sitzungsperiode 
aus Anlaß eines praktischen Falls in den Reichstagssitzungen v. 16. u. 17. Dez. 
1874 St.B. 725 ff. u. 759 f. zu einer Meinungsverschiedenheit gekommen. 
Die Mitglieder der Geschäftsordnungs-Kommission waren Überwiegend für 
die unbeschränkte Zulässigkeit der Strafvollstreckung St. B. 729; im Plenum 
sprachen sich die Abg. Windthorst St. B. 734, und Lasker St. B. 742, 744 
dagegen, die Abg. Schwarze St. B. 748 und Gneist St. B. 750 dafür aus. 
Der Reichstag nahm schließlich eine von dem Abg. v. Hoverbeck beantragte 
Resolution an (Anlagen 1874, 1875 Nr. 140): „zu erklären, daß es behufs 
Aufrechterhaltung der Würde des Reichstags notwendig sei, im Wege der 
Deklaration, resp. Abänderung der Verfassung die Möglichkeit auszuschließen, 
daß ein Abgeordneter während der Dauer der Sitzungsperiode ohne Ge- 
nehmigung des Reichstags verhaftet werde“; vgl. Rönne I S. 278 A. 1. Aus 
dieser Resolution geht hervor, daß der Reichstag trotz seines lebhaften 
Wunsches, daß die Strafvollstreckung von seiner Genehmigung während der 
Dauer der Sitzungsperiode abhängig gemacht werde, nicht in der Lage war, 
diesen de lege ferenda erstrebten Zustand schon auf Grund des Art. 31 
als geltendes Recht anzuerkennen. Der Bundesrat beschloß der Resolution 
keine Folge zu geben. In der Sitzungsperiode von 1875/76 wurde wieder 
ein Antrag auf Abänderung des Art. 31 eingebracht, aber vom Reichstag 
in der Sitzung v. 4. Dez. 1875 verworfen St. B. 471 ff. In der Praxis 
des preußischen Abgeordnetenhauses, für das im Art. 84 Abs. 2 — 4 der 
Verf. Urk. die gleiche Bestimmung besteht, ist eine andere Ansicht als die 
der unbeschränkten Zulässigkeit der Strafvollstreckung nicht aufgestellt worden. 
Für die Verbündeten Regierungen hat diesen Standpunkt der Justizminister 
Leonhardt in der Reichstagssitzung v. 16. Dez. 1874 St. B. 739 f. vertreten. 
Dieselbe Ansicht ist in der Literatur fast allgemein anerkannt; vgl. Meyer 
* 133 A. 18; v. Rönne 1 S. 278 hält die Frage für zweifelhaft. 
Ebenso sicher ist, daß die Bestimmung des Abs. 3 sich nicht auf die 
Strafvollstreckung bezieht, daß also der Reichstag nicht berechtigt ist, die 
Unterbrechung der gegen einen Abgeordneten eingeleiteten Strafvollstreckung 
für die Dauer der Sitzungsperiode zu verlangen. Denn der Begriff des 
Strafverfahrens, auch wenn man ihn so weit nimmt, als es das Reichs- 
gericht in der Entsch. v. 24. Juni 1892 Bd. 23 S. 185 ff. getan hat, um- 
faßt nicht die Strafvollstreckung, weil sie ein rechtskräftiges Urteil und damit 
die formelle Beendigung des Strafverfahrens voraussetzt. Darüber ist in der
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.